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III. Das neue Deutsche Reich bis auf die Gegenwart.
§ 85. Kaiser Wilhelm I., 1871—1888.
Als Greis von ^vieruudsiebenzig Jahren bestieg Kaiser Wilhelm den
Thron des Deutschen Reiches. Aber zum Heile des deutschen Volkes war es
ihm vergönnt, noch eine lange Reihe von Jahren die Geschicke Deutschlands
zu leiten. In dieser Friedenszeit hat er bewiesen, daß es ihm heiliger
Ernst war, was er in Versailles gelobt: „allzeit Mehrer des Deutschen
Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an
Gütern und Gaben des Friedens, auf dem Gebiete nationaler
Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung". Wie in den Jahren des
Krieges, bei dem. Aufbau des Deutschen Reiches, so blieb auch jetzt bei den
Werken des Friedens Fürst Bismarck, der „eiserne Kanzler", der treue
und unentbehrliche Ratgeber des Kaisers.
1. Sicherung des Friedens. Vor allem galt es. die Segnungen des
Friedens zu erhalten. Diesem Zwecke diente die fortwährende Vermehrung
des Heeres, durch dessen Stärke und Tüchtigkeit Deutschland die erste
Landmacht der Erde ist. Noch mehr aber wirkten für die Erhaltung des
europäischen Friedens die Bündnisse, welche Kaiser Wilhelm mit anderen
Staaten Europas abschloß.
Bismarcks meisterhafte Staatskunst brachte 1872 zwischen den Herr¬
schern des Deutschen Reichs, Österreichs und Rußlands das „Dreikaiser¬
bündnis" zustande. Als Rußland sich bald zurückzog, schloffen das Deutsche
Reich und Österreich sich noch enger zusammen; ihr Friedensbund wurde später
durch den Beitritt Italiens zum Dreibunde erweitert, welcher noch heute
besteht und trotz der Kriegsgelüste der mit Rußland verbündeten Franzosen
eine sichere Bürgschaft für die Ruhe Europas bietet.
2. Innere Ausgestaltung der Einheit des Reiches. Um das
einigende Band, welches nunmehr alle Deutsche umfaßte, zu befestigen,
wurde Gleichheit der Münzen, Maße und Gewichte, sowie Einheit
der Rechtspflege und des Verkehrswesens eingeführt./^
3. Förderung des überseeischen Handels und Gründung von Ko¬
lonien. Seit Jahrhunderten hatten die Deutschen den Welthandel ganz
den westlichen Völkern Europas überlassen (s. § 49, 3), da der deutsche
Kaufmann in der Fremde schutzlos w,ar. Darunter litt auch die deutsche
Industrie empfindlich, welcher es an Absatzgebieten fehlte. Hierin trat
seit der Errichtung des neuen Deutschen Reiches ein vollständiger Um¬
schwung ein. Bald wehte nun die schwarz-weiß-rote Flagge der mächtig
aufstrebenden deutschen Kriegsflotte auf allen Meeren; der deutsche