248
3. Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;
in Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;
es stürzt der Fels und über ihn die Flut.
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
geht unser Weg! o Vater, laß uns ziehn!
Johann Wolfgang von Goethe.
137. Weihnachten in Neapel.
eihnachten, stilles, heiliges Winterfest des Nordens, wo
im traulichen Haufe die Liebe ihre Geschenke aus fest¬
lichen Tischen ausbreitet, wo Frau Holle im lustigen
Schneegestöber Stadt und Land und alles unterm freien
Himmel mit blendendweißer Feierdecke überkleidet, wie
so grundverschieden nimmst du dich doch am Golfe von Neapel
aus! Ern Freudenfest auch hier, und was für eins! Das Erbe
der Saturnalien, die auf diesem Boden auch um die Zeit der
Sonnenwende vor bald zweitausend Jahren brausend begangen
wurden.
Brausend und — schmausend, daß es eine Art hat, so geht
es hier auch heute noch her. Neapel ist bekanntermaßen im Alltags¬
leben schon die lauteste und lärmendste unter Europas Städten.
Am 24. Dezember schwillt das Volkstreiben zum tosenden Strome
an, aber niemals überflutet es die Ufer der guten Ordnung.
Von Ende November bereits bis kurz vor Weihnachten, während
der sogenannten Novena, werden Ohr und Seele des Chriften-
menschen durch die musizierenden Hirten, die aus den Abruzzen
niedersteigen, zu festlich frommer Fröhlichkeit gestimmt. Wer kennt
sie nicht, die Pifferari und Zampognari in ihrer dürftigen, unend¬
lich malerischen Hammelfellkleidung, mit weitem, dunklem, zerrissenem
und verschlissenem Mantel, mit abgeschabten Ledertniehosen, Riemen-
werk um die Beine gewickelt, Sandalen an den Füßen? (
In Neapel sind sie nur zur Weihnachtszeit anzutreffen, dann
aber aller Ecken und Enden. Auf den Straßen, auf den Treppen der
Paläste, aus den Logen der Hauswarte und in den Butiken der
lleinsten Winkelgäßlein tönt immer ein und dieselbe Weise. Corne-
musa == Schalmei, Chiarina — klarinettartige Holzpfeife und Zam¬
pogna = der Dudelsack heißen die drei Marterinstrumente. Die