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lerisch ausgebildetes Ganzes erblickt, ist es hier ein gesammelter Vor¬ 
rath von tiefpoetischen, gemüthvollen und ungeheuerlich phantastischen 
Mythen in nebelhaftes Dunkel gehüllt und der wissenschaftlichen For¬ 
schung schwer zugänglich, da die verschiedenen Elemente weniger in 
schriftlichen Urkunden, als, durch die wunderbarsten Verwandlungen 
kaum erkennbar, im Leben des Volkes liegen. Den Völkern des wäl¬ 
derreichen Germaniens fehlte der Glanz, die Klarheit und die plastische 
Lebensfülle des gesegneten Südens; dafür ist der deutschen Art ein 
sinniger Ernst angemessen, welcher sie dem Eiteln entführt und dem 
Mächtig-Erhabenen oder dem Heimlich-Gemüthlichen zuleitet. Unsere 
alte Götterlehre ist von einer Größe, Reinheit, Innigkeit, von dem Hauche 
göttlicher Wahrheit in einem Grade durchdrungen, der sie schon in die¬ 
sen frühen Zeiten als den ersten und vornehmsten Träger des Christen¬ 
thums ankündigte. Später wurden verschiedene der alten heidnischen 
Mythen theilweise in die christliche Lehre mit übergetragen. „Die Götter, 
aus der Öffentlichkeit vertrieben, retteten ihr Dasein unter christlichen 
Namen und Gestalten." 
Die Urmythen, welche bei den verschiedenen deutschen Völkerschaften, 
wenn auch unter veränderten Bezeichnungen, doch immer so ziemlich als 
dieselben wiederkehren, sind in der Volusp a, d. H. in der heiligen 
Weissagung und Lehre, und in der Edda, der mythischen Sagendichtung 
der nordischen Völker, enthalten. Sie erzählen, wie folgt: 
„In der Morgenstunde aller Alter baute der Riese 2)me seine 
Wohnung. Der Riese aber ist die Erde, seine Knochen sind das Gerippe 
des Erdballs, die Felsen und Berge. Des Riesen Haare waren die 
Wälder. Damals waren weder Meer noch Strand, noch erfrischende Winde, 
weder ein trockener Erdboden hier unten, noch ein fester Himmel 
dort oben, denn das Chaos, von den Nordländern Ginnurga, eine uner¬ 
meßliche Leere genannt, war überall, aber nirgend Saat zu Gewächsen. 
Die Sonne wußte nichts von ihren Palästen, der Mond war sich seiner 
Vortheile nicht bewußt, die Sterne kannten nicht ihre Stelle. Nachdem 
Odin, der mächtige Herrscher, mit seinen Brüdern den Riesen erschla¬ 
gen^ bauten sie von seinen Augenbrauen eine Stadt rings um die Welt, 
Midgard genannt (die Atmosphäre), und von seinem Gehirne machten sie 
die Wolken. Hierauf setzte Allfader die Nacht und ihren Sohn, den Tag, 
an den Himmel und gab jedem einen einspännigen Wagen, um den 
Himmel zu fahren. Die ersten Menschen aber wurden aus Bäumen 
geschaffen, die am Meere lagen." 
Das höchste allwaltende Wesen heißt in allen deutschen Zungen 
Gott, als Ursprung alles Erschaffenen Allvater; die übrigen Götter 
sind Ausflüsse seiner Kraft und seines Geistes. Wie die Idee der 
höchsten Himmelsmacht bei den Griechen sich in Zeus vergegenwärtigte, 
so vertritt der deutsche Wodan, der Odin des Nordens, die Alles
	        
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