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stücke verfaßt haben soll. Mir einem Reichthum der Erfindung und
einer Fülle der Phantasie, die selten übertreffen werden kann, verband
er eine merkwürdige Gewandtheit der poetischen Technik und eine hohe
Meisterschaft in Sprache und Ausdruck.
Der größte der spanischen Dramatiker, weniger fruchtbar als Lope
de Vega, aber reicher an Tiefe und Einheit genialer Erfindung und
harmonischer Entwickelung, war Calderon de la Bar ca (1600 bis
1681). Seine Hauptwerke sind durch vielfache Übersetzungen auch aus
der deutschen Bühne einheimisch geworden. Scharfe Charakterzeichnung,
reine, edle Sprache, geschickte, bühnengerechte Anlage, und die treue
Schilderung eines bunten, leidenschaftlich bewegten Lebens, offenbaren
in jeder Scene den vollendeten Meister.
Calderon's Dramen, deren Zahl sich auf mehr denn hundert beläuft,
sind das Vorbild aller späteren spanischen Dichter geworden, unter
welchen Moreto (gest. 1669) der bedeutendste und bekannteste ist.
Mond und Sterne aber müssen verschwinden, wenn die Sonne aus¬
geht. So wenden wir uns denn zu dem Einen, der alle andern ver¬
dunkelt.
William Shakespeare war den 28. April 1564 zu Strat-
ford am Avon geboren. Niemand wird zögern, ihn als den größten
Dichter der Neuzeit anzuerkennen. Er steht auf der Grenzscheide zweier
Weltalter und überschaut mit gleicher Sicherheit die Größe und Kraft
des untergehenden Mittelalters, als er mit prophetischem Geiste die aus
der Reformation aufsteigende neue Welt begrüßt und erfaßt. Shake¬
speare ist gleich groß in der erschütterndsten Tragödie wie in dem kühn¬
sten Humor; er weiß beide zu verschmelzen wie kein anderer Dichter vor
oder nach ihm, und hat dadurch die tiefste Lebenswahrheit der Schilde¬
rung erreicht.
Wie für jede große Bildungsepoche ein großer Genius Leuchte und
Wahrzeichen und allwirkendes und alldurchdringendes Muster ist, so
steht Shakespeare auf der Schwelle der neuen Zeit.
Man besitzt 35 entschieden ächte Stücke von Shakespeare, unter
welchen wir die historischen Tragödien von denjenigen unterscheiden, die
auf rein menschliche Verhältnisse und Gemüthsverwickelungen gebaut sind,
so wie die Lustspiele wieder eine eigene Gattung für sich ausmachen.
Fast immer aber spielt, wie im Leben selbst, Scherz und Ernst, die höchste
Tragik und der kühnste Humor so wunderbar in einander, daß un¬
vermerkt die Tragödie zugleich in's Lustspiel, und das Lustspiel in die
Tragödie überstreift.
In bett geschichtlichen Schauspielen begegnen wir zuerst der stolzen
Römerzeit. Coriolan, Cäsar, Antonius und Kleopatra, Titus Andro-
nikus entrollen ein lebensvolles, tief ergreifendes Bild der mächtigen
Parteikümpfe jener Zeit, zu deren Studien der Dichter in feinen eigenen
Tagen wohl reichen Stoff zu finden wußte. Aus der englischen Geschichte