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Indessen stand es auch wohl nicht so schlimm in den deutschen
Städten, die hier als maßgebend gelten müssen. Sie waren recht eigent¬
lich die bewaffneten Hüter der deutschen Kultur, welche reich und ge¬
räuschvoll in engen Straßen zwischen hohen Häusern arbeitete. —
Reinlichkeit der Straßen, stattliche Häuser, schöne Kirchen. Bildsäulen
auf den Hauptplätzen — Convente oder Börsen sür die Kaufleute. In
solcher Umgebung tummelte sich ein kräftiges, arbeitsames, wohlhabendes
Volk mit Selbstgefühl, eifersüchtig auf die Privilegien und das Ansehen
der Stadt, reich, tüchtig und unternehmend.
Noch zeigt das freundliche Augsburg, das herrliche altertümliche
Nürnberg die Erinnerung an die Tage jenes alten glanzvollen Bürger¬
thums im 16. Jahrhundert, das uns in unserer modernen Welt gleichwie
im Halbdunkel gemalter Scheiben poetisch verklärt erscheint.
2. Wissenschaften.
Ein Blick auf die geistige Entwickelung unserer Periode zeigt uns
einen merkwürdigen Reichthum rascher und vielseitiger Bestrebungen.
Die Reformation hatte den Boden urbar gemacht und das Kernten,
Wachsen und Blühen ließ nicht auf sich warten.
Wie die geistige Bewegung am Anfange des Jahrhunderts ihren
ersten Antrieb durch die Bekanntschaft mit dem klassischen Alterthum
empfangen hatte, so mußte das Studium der alten Sprachen als ge¬
meinsame Grundlage der verschiedenen Fachwissenschaften dienen und die
Philologie in ihrem ganzen Umfange auf erster Linie stehen.
Man sagt nicht mit Unrecht, daß alle vier Fakultäten damals in
der Grammatik enthalten waren. Von der Herstellung und Auslegung
der alten Texte hing die Richtung und der Fortschritt des gelehrten
Studiums ab. Es war die Gesammtausgabe des damaligen Gelehrten¬
thums, die Wissenschaft des Alterthums durch kritische Sichtung und Be-
seitigung alles Störenden nach den ächten Quellen möglichst gereinigt
darzustellen und dann in dem Sinne und Geiste der Zeit, ihre Grenzen
erweiternd, sie selbstständig zu entwickeln und weiter zu führen, abgesehen
davon, daß das Studium der so reich und schön gegliederten alten
Sprachen an sich schon eine unschätzbare Bildungskraft in sich schließt.
Abermals ist hier auf das Verdienst Philipp Melanchthon's
hinzuweisen, dessen Schüler in Leipzig, Königsberg, sowie in Tübingen,
Marburg, Heidelberg, Erfurt, Frankfurt u. s. w. den seinen Sinn und
das gründliche Verständniß ihres Meisters zu verbreiten und zu fördern
wußten.