Kapitel XI. Der innere Ausban des Deutschen Reiches. 119
die Schulinspektoren der Volksschulen nur Geistliche gewesen. Dann legte
derselbe Minister 1873 dem preußischen Abgeordnetenhaus vier Gesetze vor,
die vom König im Mai unterzeichnet wurden und daher den Namen „Mai-
ge setze" erhielten. Durch diese Gesetze wurde die Gewalt der Kirche auf
rein geistliche Angelegenheiten beschränkt. Dem Staat wurde die Aufsicht über
die geistlichen Bilduugsanstalten übertragen. Auch wurde die Ernennung
von Geistlichen dnrch die Bischöfe vom Einspruch des Staates abhängig ge-
macht. Ebenso wurde der Austritt aus Kirchengemeinschaften geregelt. Das
Reich kam der preußischen Regierung in diesem Kampf zu Hilfe. Schon
1872 wurde der Jesuitenorden in Deutschland aufgehoben. 1875 wurde die
Zivilehe eingeführt. Die katho-
lifche Kirche wehrte sich leiden-
schaftlich. Der Papst feuerte die
Bischöfe zum Widerstand cm,
diese wieder ihre Geistlichen.
So kam es, daß von den zwölf
preußischen Bischöfen sieben ab-
gesetzt und an 1000 katholische
Pfarrer von ihren Stellen ver-
wiesen wurden. Aber die Macht
des Zentrums wuchs um so mehr.
Die Zahl der „ultramontanen"*)
Zeitungen wuchs von 4 auf 120,
die Zahl der katholischen Ab-
geordneten von 60 auf 100
au. So war der uralte Streit
zwischen Kaiser und Papst er-
nent ausgebrochen, der Streit
zu einem Kampf zweier Welt-
anschauungen, der des sortschritt- „adj $6ltogt„w, „„„ * <$„. $„tnae
liehen Gedankens der Refor¬
mation nnd der Beugung der Gewissen unter die Autorität, emporgewachsen.
Mit Recht nannte der freisinnige Abgeordnete Rudolf Virchow diesen Kampf
des Staates mit der Kirche einen Kulturkampf. Der Kanzler aber sprach
das stolze Wort aus: „Nach Canossa gehen wir nicht." Als aber Papst
Pius 1878 starb und der friedlich gesinnte Leo Xlll. folgte, begann der Leo xm.
Friede zwischen den Parteien angebahnt zn werden. Freilich ist dieser erst
nenn Jahre später herbeigeführt worden. Der Staat nahm zwei von den
Maigesetzen zurück. Aufrecht erhalten aber blieben das Gesetz über die Be-
setzung der geistlichen Stellen, die Teilnahme der Laien an der kirchlichen
*) Uttramontan heißt jenseits der Berge, weil die Katholiken ihr geistliches Oberhanpt
jenseits der Alpen in Rom haben.
Papst Leo XIII.