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wir sollten der Lust eines Vaterunsers lang entbehren? Solche Güter
sind die größten und die allerverachtetsten, darum daß sie gemein sind.
Martin Luther.
101. Einmal ist Keinmal.
„Einmal ist Keinmal.“ Dies ist das erlogenste und schlimmste
unter allen Sprichwörtern, und wer es gemacht hat, der war ein
schlechter Rechnungsmeister oder ein boshafter. Einmal ist
wenigstens Einmal, und daran lässt sich nichts abmarkten. Wer
Einmal gestohlen hat, der kann sein Lebenlang nimmer mit
Wahrheit und mit frohem Herzen sagen: „Gottlob, ich habe mich
nie an fremdem Gut vergriffen!“ Und wenn der Dieb erhascht
und gehenkt wird, alsdann ist Einmal nicht Keinmal. Aber das
ist noch nicht alles, sondern man kann meistens mit Wahrheit
sagen: „Einmal ist zehnmal, und hundert- und tausendmal.“ Denn
wer das Böse angefangen hat, der setzt es gemeiniglich auch fort.
Wer A gesagt hat, der sagt auch gern B, und alsdann tritt zu¬
letzt ein anderes Sprichwort ein, „dass der Krug so lange zum
Brunnen gehe, bis er bricht“. Johann Peter Hebel.
102. Das Weihnachtsland.
1. Der kleine Vogel.
Am Morgen eines Tages, kurz vor Weihnachten, nahm Werner
das Küchenbeil über die Schulter und ging allein in den Wald, denn
der Förster, welcher den artigen Knaben gern sah, hatte ihm auch in
diesem Jahre wieder erlaubt, sich selbst ein Tannenbäumchen für den
Weihnachtsabend abzuhauen. Ausgesucht hatten die Kinder sich dieses
schon lange und waren nach vielem Beraten und Erwägen einig ge¬
worden, daß im ganzen Walde kein schöneres zu finden sei. Es stand
ziemlich weit draußen ganz allein unter dem Schutz einer einzelnen
alten Buche und war so nett und adrett und zierlich gewachsen, daß
es eine wahre Freude war.
Es war ein schöner, milder Wintertag, die Sonne schien vom
unbewölkten Himmel, und der Waldboden war mit ein wenig Schnee
wie mit Streuzucker gepudert, so recht ein Tag für die kleinen Wald¬
vögel, welche im Winter bei uns bleiben. Man hörte in der stillen
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