Full text: Geschichte der neuesten Zeit (Teil 4)

IV 
Vorwort. 
Auf den Stoff als solchen kommt gar nicht viel an: den wird der 
Schüler wie der Erwachsene immer wieder bequem in den Erzeugnissen der 
längst erfundenen Buchdruckerkunst nachschlagen. Das geschichtliche Denken 
ist die Hauptsache, die Fähigkeit, sich in Persönlichkeiten und Vorgänge 
einer versunkenen Zeit hineinzuversetzen, sofern diese Zeit noch heute merklich 
nachwirkt. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Zeiträumen und 
Entwicklungsreihen gilt es herauszufinden; es gilt, die großen Zusammen- 
hänge sich vor Augen zu stellen, denen die einzelnen Ereignisse angehören; 
es gilt, die Gegenwart aus der Vergangenheit, die Vergangenheit aus 
der Gegenwart zu begreifen; es gilt aber auch, sich mit dem guten, 
treuen Willen zu erfüllen, mit dem das heranwachsende Geschlecht an 
die Zukunft herantreten soll und an die Arbeit, die darin unseres Volkes 
harrt. Darum habe ich auf deutsches Wirken auch im Ausland gern 
und nachdrücklich hingewiesen, damit es geschätzt und weitergeführt werde. 
Zu dieser Behandlung des grundlegenden und auch wieder abschließen- 
den Erziehungsmittels des Geschichtsunterrichts bieten die neuen Lehrpläne 
die erwünschteste Handhabe, und mein Buch ist sorglich darauf bedacht, 
sie zu benützen. Es wird nur am Lehrer liegen, ob das herkömmliche 
Verfahren trotz aller Mahnrufe und aller guten Anläufe noch länger 
andauern, ob noch lange der herrliche Lehrgegenstand unfruchtbar bleiben 
soll, oder ob die Fenster immer weiter aufgetan werden dem frischen 
Hauche des Lebens, der hinauslocken will auf die schöne grüne Weide 
und die Gräfte der Seele stärken will für den Genuß der Freiheit. 
„Für den erzählenden Unterricht" war das Kappessche Lehrbuch be- 
stimmt, an dessen Stelle das meinige getreten ist. Seither sind wir der 
Arbeitsschule nahegekommen: da ist keine Zeit mehr, Geschichten zu 
erzählen. Heute heißt es: das Leben verstehen, damit man das Leben wolle 
und es richtig gebrauche. Die Schüler selbst sollen und wollen sich ihr Welt- 
bild selbsttätig schaffen und sich das Feld ihrer künftigen Tätigkeit erspähen. 
Der Lehrvortrag mag ruhig schwinden: auch auf der Hochschule wird 
er mehr und mehr eingeschränkt. Ein kundiger und pflichtbewußter Lehrer 
wird alle Hände voll zu tun haben, die Auskünfte und Fingerzeige zu 
gewähren, die seine Klasse, wenn sie das Buch mit offenen Augen an- 
gesehen, von ihm verlangen wird. 
Insbesondere muß es ihm obliegen, seine Schülerinnen nach Maß- 
gäbe ihrer Anlage und Vorbildung zu den Quellen selbst hinzuleiten, 
auf denen die Darstellung aufgebaut ist. 
Ein Anhang, der die Verwendung des Buches im Seminar unter- 
stützen soll, wird nachfolgen. 
Frankfurt a. M., am 28. August 1910. 
E. Keller.
	        
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