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reicher Geist, der nach den verschiedensten Richtungen hin anregend, weckend und
befruchtend wirkte. Insbesondere ragte er hervor durch seine tiefe Einsicht in das
Wesen und den Ursprung der Poesie, die er nicht als Besitztum einzelner, sondern
als eine Völkergabe, als „die Muttersprache des menschlichen Geschlechts" be-
zeichnete. Das Volk galt ihm als die Quelle, die alten Volksgesänge als die Grund-
läge aller echten Poesie. Mit Hingebung und anschmiegendem Verständnis studierte
er in umfassendster Weife die Dichtungen fremder Völker und entlegener Zeiten und
gab sie in trefflichen Übersetzungen und Nachbildungen wieder. Seine „Stimmen
der Völker in Liedern" enthalten charakteristische Gedichte aus allen Nationen-
Sein „Cid", ein Epos in Liedern, ist eine Umdichtung spanischer Romanzen. Neben
seinen meisterhaften Übersetzungen erheben sich Herders eigene Gedich te nicht zu
großer Wirkung. Unter ihnen treten als die bemerkenswertesten die Legenden
und Parabeln hervor.
Goethe, Johann Wolfgang (von), war am 28. August 1749 zu Frankfurt a. M.
geboren. Körperlich und geistreich ausgestattet, einer gebildeten und wohlhabenden
Familie entstammend, stellt er sich und die Eltern uns mit den Worten vor: „Vom
Vater Hab' ich die Statur, des Lebens ernstes Führen, vom Mütterchen die Froh-
natur und Lust zu fabulieren." Auf den Universitäten Leipzig und Straßburg
studierte er die Rechte und dichtete reizende Lieder. Manche der letzteren find an
die anmutige Pfarrerstochter Friederike Brion von Sefenheim gerichtet,
die er von Straßburg aus kennen lernte. Wichtig für seine tiefere Einführung in
das Wesen der Poesie wurde der engere persönliche Verkehr, in welchen er zu Straß-
bürg mit dem dort verweilenden, ihm an Jahren und geistiger Reife überlegenen
Herder trat. Von der Universität in die Heimat zurückgekehrt, ging er auf kurze
Zeit nach Wetzlar, um am Reichskammergericht zu arbeiten. Dort befreundete er
sich mit Lotte Buff, die sich bald nachher als Gattin mit dem hannoverschen Ge¬
sandtschaftssekretär Kestner verband. Als er dann in Frankfurt als Rechtsanwalt
thätig war, flößte ihm die „Jugendblüte", die „liebliche Gestalt" der holden Pa-
trijiertochter Lili (Schonemann eine Neigung ein, die er in neuen köstlichen
Liedern zum Ausdruck brachte. Immer ferner trat ihm der juristische Beruf, immer
mächtiger regte sich fein Dichtergeift. Vor allem offenbarte sich dieser jetzt in zwei grö¬
ßeren Werken, die 1773 und 1774 erschienen und eine tiefgreifende, unermeßliche Wir-
kung übten. Es waren das Nationalf chaufpiel „Gö tz von 33 erl ich in gen" und der
Roman „Die Leiden des jungen Werthers". Diese Schöpfungen erhoben
Goethe mit einem Male zu Deutschlands gefeiertstem Dichter. Selbst der trockene
Vater entdeckte nun in dem Sohne einen „singularen Menschen", die Mutter aber,
die heitere „Frau Rätin", freute sich der Ehre, die vielen ausgezeichneten Männer
zu bewirten, die den Bewunderten in Frankfurt aufsuchten. Auch der junge Herzog
K a r l Au g u st von Weimar kam dorthin und lud ihn an seinen Hof. Goethe folgte
dem Rufe: 1775 ging er nach Weim ar. Dort lebte er fortan als des Herzogs ver¬
trautester Freund, Ratgeber und Minister bis zu feinem Tode. Einen bedeutsamen
Einfluß auf fein Leben und Dichten übte fein inniger Freundfchaftsbund mit der
hochgebildeten Frau von Stein. Im Jahre 1786 machte er eine Reife nach
Italien und verweilte dort, umgeben von den reichen Schätzen der Natur und
der Kunst, zwei Jahre, in denen fein dichterischer Geist zur höchsten Ausbildung
gelangte. Er vollendete in Italien den „Egmont", ein Schauspiel, das dem Götz
sich würdig an die Seite stellt; er gab der zuerst in Prosa geschriebenen „Jphi-