. Aus der Heimat.
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Die friesischen Chroniken wimmeln von Berichten über das Unheil,
das über diese Gegenden hereingebrochen ist. Zuerst wird erzählt, daß im
Mittwinter 1167 ein gewaltiges Wetter mit Sturm und Blitz heraufzog,
das die Väume wie Halme knickte und eine Menge Häuser umblies, in denen
dann zum Teil auch noch Feuer ausbrach. Das Meer stieg zu einer Höhe,
wie niemand je gesehen noch gehört hatte; das salze Wasser strömte über alles
Marschland, Menschen kamen tausendweis um, und es ertrank des Viehes
mehr, als man zählen konnte. — Je weiter wir in der Zeit vorwärts—
kommen, je ausführlicher werden die Schilderungen. Namentlich nächtliche
Fluten waren entsetzlich. Wo man nahe beisammenwohnte, scholl der Not—
ruf von Haus zu Hause; von Kirchspiel zu Kirchspiel trugen die Sturm—
glocken unablässig die Botschaft von dem drohenden Unheil.
Aber viele, die abseits wohnten, wurden erst durch das eindringende
Wasser selbst geweckt. Da war es oft zu spät, aus niederen und unsicheren
Wohnungen nach höheren und festeren zu flüchten; denn selbst, wenn das
Wasser noch seicht und wenn es noch eben hell genug war, daß man die
Richtung finden konnte, bildeten die tiefen Gräben wahre Fallgruben. Oft
stieg das Wasser so schnell, daß nur noch Zeit blieb, die Kinder aus den
Belten zu reißen und nackt auf den Boden zu flüchten; und nicht selten
erreichte es auch den. Dann galt es, hinaus, aufs Dach zu kommen. Die
Wogen schlugen die Mauern ein, die Pfosten zerknickten; der Dachstuhl trieb
weg und löste sich auf. Hier ertranken ganze Familien auf einmal, dort
trieben einzelne, an die Trümmer geklammert, nach verschiedenen Richtungen
weg. Auch Feuer brach aus; brennende Teile entzündeten wieder vorüber—
treibende Rohrdächer, und die Menschen sprangen ins Wasser, um den
Flammen zu entgehen. — Man erzählt von Betrunkenen, die noch am
Rande des Todes nach Bier schrien, und wiederum von einem hilflosen
Weibe, Kathrine Lorenzes, die sich zur Ruhe legte und sich Gott befahl;
das Haus brach über ihr zusammen, aber sie trieb unbeschädigt in ihrem
Bette nach dem Warf des Nachbarn hinüber. —
Beim Morgengrauen sah man überall Häusertrümmer und Hausgerät,
ertrunkenes Vieh und tote Menschen, Wiegen und Särge nebeneinander.
Hier waren die Wohnungen ganz fort, dort flatterte von einsturzdrohenden
dãchern die Notflagge. Der größte Teil der noch stehenden Häuser war
stark beschädigt, die Fenster zerschlagen, die Wände durchbrochen. Die
Feuerung war unbrauchbar, die Lebensmittel verdorben, selbst ein Trunk
Wassers kaum aufzutreiben. — Welch wunderbarer Eindruck, welche Gefühle
nach einem solchen Ereignisse, wenn das Gotteshaus die Andächtigen ver⸗
sammelte und sie hörten über das Wort reden: Gott ist unsre Zuversicht
und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns trossen haben. Darum
Vaterland. Oberstufe.
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