fullscreen: Moderne deutsche Dichter

72 — 
Drauf Sokrates: 
„Der Mann hat dennoch Recht! 
Wohl war ich niemals meiner Triebe Knecht! 
Weil ich mich früh geübt, sie zu bekämpfen; 
Und jede böse Glut in mir zu dämpfen; 
Doch schlimme Leidenschaften hat ins Leben 
Die prüfende Natur mir mitgegeben, J 
Und nur durch schweren Kampf und stete Übung 
Des Guten klärt' ich angeborne Trübung, 
Denn nur der Thor und alberne Sophist 
Wähnt, dass das Böse nicht zu bändigen ist.“ 
Schein und Wesen. 
(Morgenländisch.) 
Der Lehrer sprach zum Schüler: „Sieh, 
Mein Sohn, den Schatten dort vom Zelt, 
Er gleicht dem Dasein dieser Welt, 
Ist ganz so wesenlos wie sie. 
Beachte, wie ich meine Hand 
Jetzt auf zum Licht der Sonne hebe 
Und unter uns dem Wüstensand 
Selbst mit den Fingern Schatten gebe: 
Er scheint dir greifbar und bezirklich, 
Allein du siehst, er ist nicht wirklich, 
Denn alles Wirkliche besteht, 
Derweil der Schatten schnell vergeht, 
Zieh' ich die ausgestreckte Hand 
Zurück ins hüllende Gewand. 
Und wie der Schatten wesenlos 
Ist alles Täuschung unsrer Sinne, 
Vorstellung des Gehirnes bloß 
Und nichts zu bleibendem Gewinne. 
Selbst jener Glutenborn am Himmel 
Und nachts die leuchtenden Gestirne, 
Das ganze athmende Gewimmel 
Des Weltalls lebt bloß im Gehirne, 
Im Schaun des inneren Gesichts; 
Wird dies vernichtet, so bleibt nichts.“ 
So sprach und gieng der Lehrer weiter 
Mit seinem grübelnden Begleiter, 
Der, durch die Lehren ganz verwirrt, 
Vom rechten Weg sich bald verirrt 
Im endlos dürren Wüstenraum, 
Wo keine Quelle und kein Baum
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.