§. 542.543. Frankreich. Verfassungskämpfe in d. pyren, Halbinsel u. in Italien. 383
zu entlassen und in eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, der
Preßfreiheit und der Wahlberechtigung zu willigen. Unter dem
Ministerium Villöle wurde der royalistische Eifer auf die Spitze getrieben. 1823
Die Kammer stieß den liberalen Deputirten Manuel aus ihrer Mitte, und
die von dem Herzog von Angouleme geführte Armee überstieg die Pyre-
näen (§. 546), um im Auftrage der heiligen Allianz das unbeschränkte
Königthum in Spanien herzustellen.
§. 542. Am 16. September 1824 schloß Ludwig XVIII. sein viel¬
geprüftes , wechselvolles Leben. Harte Erfahrungen hatten ihn Milde und
Mäßigung gelehrt; die ungestüme Heftigkeit der übrigen Glieder der Königs-
familie füllte das Herz des Sterbenden mit düstern Ahnungen der Zukunft.
Sein Bruder, der Graf von Artois, wurde als Karl X. König von Frank¬
reich. Durch seine feierliche Krönung und Salbung tu Rheims schien er an- 319825tfit
zudeuten, daß er im Sinne der alten „allerchristlichsten Monarchen" zu regie¬
ren gedenke. Darum wendete er dem Adel und der Geistlichkeit sein Herz zu
und überließ sich ganz und gar der Reactwnspartei mit der Losung: „Thron
und Altar!" Die während der Revolution zu Verlust gekommenen Emigran-
ten erhielten von den rDualistischen Kammern eine Entschädigung von 1000
Millionen Franken, und eine Reihe von Gesetzen im Interesse der Kirche und
der christlichen Religion beurkundete die Absicht des Königs, durch die kirchliche
Wiedergeburt Frankreichs einen mächtigen Damm gegen die Revolutionsideen
zu schaffen. Diese Wiedergeburt hoffte Karl X. dadurch zu begründen, daß
er der Geistlichkeit ihre vormalige einflußreiche Stellung zurückgab, reiche Prä-
laturen stiftete, das Ordenswesen beförderte und die kirchliche Werkheiligkeit
mit dem ganzen neurömischen Pomp begünstigte. Die von dem Papst längst
wiederhergestellten Jesuiten kehrten zurück, wenn auch nicht öffentlich; sie
gründeten Vereine für fromme Verrichtungen (Kongregationen) und suchten
den Jugendunterricht in ihre Gewalt zu bringen. Dadurch verstärkte der
König die liberale Opposition, indem sich alle Männer von philosophischer Bil¬
dung, alle Freunde des Lichts und der Aufklärung von einer Regierung ab¬
wandten, die den Obscurantismus so sehr begünstigte. Während der verblen¬
dete Monarch glaubte, durch unzeitgemäße Missions- und Bußzüge oder durch
Zwangsgesetze und Beschränkungen den Geist des Volkes in die alten Fesseln
schlagen zu können, lauschte die strebsame Jugend den freisinnigen Worten
und Lehren der aufgeklärten Professoren an der Pariser Universität (Guizot,
VtUemaiu, Royer-Collard u. SC.), oder horchte auf die kühnen und
freien Reden der Oppositionspresse (Globe, Rational, Constitutione!) oder er¬
götzte sich an den Freiheitsliedern Berangers und au den Satiren des
Hellenisten Paul Louis Courier, und der Bürger las die verbreiteten Schrif¬
ten Voltaire'$ und der Encyclopädisten ober die zahlreichen Geschichtswerke
und Denkwürdigkeiten über die Revolution und die Napoleonische Ruhmes¬
herrschaft (Thiers, Mignet u. A.).
3. Die Verfassungskämpfe in der pyreniiischen Halbinsel und in Italien.
§. 543. In Spanien und in Italien waren die neuen politischen
Ideen nicht in das von der Priesterschaft beherrschte Volk gedrungen; sie
lebten in den Köpfen der Gebildeten und wurden, da es gefährlich war, sich
Zu ihnen zu bekennen, in geheimen Verbindungen fortgepflanzt. Solche poli¬
tische Verbindungen waren in Spanien und Portugal die „Freimaurer",
ittItalien die „Carbonari". Minderung der Priestermacht, Einführung
freier, constitutioneller Formen, Aufklärung des Volks, Erweckung der Vater-
landsliebe und des Rationalgefühls war ihr Hauptziel. Ihr Einfluß machte