Full text: Die Weltgeschichte in übersichtlicher Darstellung

472 Die neueste Geschichte in Umrissen. §. 609. 
Partei, Garibaldi an der Spitze, trachtete auch nach dem Besitze des päpst¬ 
lichen Gebiets. Rom mit seinem Capitolium sollte die Hauptstadt des geeinigten 
Italiens werden. Um diese „Nomantik" zu verwirklichen, wagte die national¬ 
liberale Partei unter Garibaldis Leitung einen neuen Einfall in die Be¬ 
sitzungen des Papstes. Aber das Unternehmen scheiterte. Eine französische 
3 Hülssarmee, mit den neuen Chassepotgewehren bewaffnet, brachte den schlecht- 
i8i7.' gerüsteten Freischaaren bei Mentana eine Niederlage bei. Die Angreifer 
wurden theils getödtet, theils zersprengt oder in Gefangenschaft geführt, 
Garibaldi selbst nach kurzer Haft in Varignano wieder in sein Äsyl auf 
Caprera gebracht, „nicht wie bei Aspromonte in der Ferse, aber tief im Her- 
zen verwundet". Seitdem wurde der Kirchenstaat aufs Neue durch eine fran¬ 
zösische Besatzungsmannschaft in der Hafenstadt Civita vecchia beschützt und 
gehütet. Selbst die Nichtbeachtung der Bedenken, welche die französische Re¬ 
gierung gegen das schroffe Borgehen des Concils erhob, führte nicht zuc 
Abberufung der Besatzunasmannschaft. Denn Napoleon hoffte dadurch den 
Klerus seines Reiches auf seine Seite zu ziehen. Noch bis zum Herbste 1870 
schützte das kaiserliche Frankreich das kirchliche Oberhaupt in seinen weltlichen 
Besitzungen. Dadurch wurde es möglich, daß die Prälaten und hohen Kleriker, 
welche Pius IX. nach einem mehr als dreihundertjährigen Zwischenraum zu 
einem allgemeinen (ökumenischen) Concil im Balkan gegen Ende 
1869.' des Jahres 1869 versammelt hatte, ihre Sitzungen ungestört abhalten konnten. 
Aber nun trat eine jener Katastrophen ein, welche in das Drama der Welt¬ 
geschichte zuweilen einen Zug von großartiger Ironie und erschütterndem 
Humor entflechten, um die Hinfälligkeit aller menschlichen Pläne und Schöpfun> 
gen um so augenfälliger erscheinen zu lassen. In demselben Augenblick, da 
es der hochkirchlichen Jesuitenpartei gelang, den zu schwärmerischen und phan- 
tastischen Vorstellungen sich hinneigenden Papst Pius IX. zu bewegen , trotz 
der in der Versammlung selbst hervortretenden Opposition und trotz der 
Abmahnungen der weltlichen Regierungen, von einer ultramontanen Majorität 
des Concils die päpstliche Unfehlbarkeit (Jnfallibilität) in allen den Glauben 
und die christliche Sitte betreffenden Lehrsatzungen decretircn zu lassen und 
somit den päpstlichen Absolutismus über Kirche und Episcopat zum Dogma 
zu erheben; in demselben Augenblick wurde der Kirchenstaat dem Königreich 
Italien einverleibt und der weltlichen Macht des Papstes ein Ende gemacht. 
Hatte ein wohldienerischer Klerus sich hinreißen lassen, den Papst von jedem 
Jrrthum freizusprechen und ihn über die Schranken der Menschlichkeit zu 
stellen, so raubte das Geschick demselben den irdischen Boden, dessen er in 
Ä seiner Erhabenheit nicht mehr zu bedürfen schien. Kaum nämlich waren die 
187«. französischen Besatzungstruppen eingeschifft worden, um ihr eigenes bedrängtes 
Vaterland in feinem Todeskampf zu unterstützen, so kündigte die Florentiner 
Regierung den Septembervertrag und stellte ein Beobachtungsheer unter 
Cadorna an der römischen Grenze auf, während Bixio, Garibaldis ehe¬ 
maliger Waffengenosse, in Civita vecchia einzog. Man versuchte zunächst, den 
Papst zu einer friedlichen Abtretung zu bewegen, indem man ihm nicht nur 
den Fortgenuß der vollen Autorität in allen kirchlichen und geistlichen An¬ 
gelegenheiten, sondern auch die Ehrenrechte eines Souveräns, den Besitz deS 
Leoninischen Stadttheils auf dem rechten Tiberufer mit dem Batican u. A m. 
anbot; als er aber alle Ausgleichungsvorschläge entschieden von der Hand 
wies, wurde das Gebiet besetzt. Bon allen Seiten strömten römische Flücht¬ 
linge und Verbannte herbei, um an dem Umsturz der geistlichen Zwingherrschaft 
mitzuwirken. Am 20. September schlugen die Italiener ihr Lager vor der 
Porta Pia auf und bedrohten Rom im Falle eines Widerstandes mit der 
Beschießung. In der Stadt lagen mehrere tausend Mann päpstlicher Truppen,
	        
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