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die Stöße der feindlichen Mauerbrecher zu schwächen, wurden mit flam¬
menden Pfeilen in Brand geschossen. Der Nordwind trieb mit Heftigkeit
den Rauch und die Flammen gegen die Stadt, und geblendet, fast erstickt
wichen die Vertheidiger. Schnell benutzte Gottfried von Bouillon diesen
günstigen Augenblick und ließ von seinem Thnrme die Fallbrücke nieder.
Ihr anderes Ende erreichte glücklich die Mauer und bahnte so den Be-
lagerern den luftigen Weg. Und sogleich stürmen Alle, welche im
Thurme sind, Gottfried an der Spitze, über die Brücke auf die Mauer.
Ganze Scharen eilen ihnen von unten herauf über die Brücke nach; noch
Andere erklimmen auf Sturmleitern die Mauer. Sie eilen nach den
Stadtthoren, hauen die Wächter nieder, sprengen die Thore auf, und
unaufhaltsam wälzt sich der ganze Strom der Kreuzfahrer unter dem
lauten Rufe: „Gott will es! Gott hilft uns!" in die offene
Stadt. In allen Straßen erschallt ein brüllendes Siegesgeschrei, in das
sich das Angstgeheul der Ueberwundenen und das Aechzen der «Ster¬
benden mischt. Zehntausend Saracenen waren von den Straßen in
einen Tempel geflüchtet. Dorthin stürmten die Pilger. „Alle sind
Frevler," riefen sie, „Alle Heiligthumsschänder, Keiner werde verschont!"
Und man metzelte, bis das Blut die Treppen des Tempels hinabrieselte,
bis der Dunst der Leichname die Sieger betäubte und forttrieb. Von
dem Tempel eilte man nach der Synagoge, in welche sich die Juden ge-
flüchtet hatten; diese wurden mit Weib und Kind lebendig in derselben
verbrannt. Dann theilten sich die Kreuzfahrer in kleinere Raubhorden.
Kein Haus blieb unerbrochen. Die Unglücklichen wurden aus ihren
Schlupfwinkeln hervorgeholt und grausam zu Tode gemartert. Viele
wurden aus den Fenstern geworfen, Anderen lebendig die Bäuche auf-
geschnitten, um zu sehen, ob sie nicht Gold oder andere Kostbarkeiten der
Rettung wegen verschluckt hätten. Kinder wurden von den Brüsten
ihrer Mütter gerissen und ohne Erbarmen gegen die Wände oder Thür¬
pfosten geschleudert, daß das Gehirn umherspritzte. Niemand wurde
gerührt von dem Flehen der Mütter, von dem Schreien der unschul-
digen Kinder. Bald glich die ganze Stadt einem großen Leichenhügel.
In wilder Mordgier schwärmten die bluttriefenden Sieger mit klirren¬
den Waffen hin und her, von den Straßen in die Häuser, von den Häu-
sern in die Straßen, ob nicht noch ein Unglücklicher zu finden sei, den
sie zur Ehre Gottes morden könnten. So sehr vergaßen sie in der ersten
Wuth die von Christus gepredigte Duldung und Menschenliebe und be-
fleckten ihren Ruhm mit den empörendsten Grausamkeiten.