fullscreen: Deutsche Dichtung in der Neuzeit (Abt. 2)

391 
Die Weisheit, die dem Morgenland bewußt, 
Des Spaniers Ernst, des Franzmanns heitre Sitten, 
Was Nord und Süd in hnndcrtfält'gen Zungen 
Dem Lied vertraut, wer hat's wie wir durchdrungen? 
6. Das Leben aller Weltgeschlechter schlossen 
In unsres wir; wir haben kühngemnt 
Den sremden Geist in deutsch Gefäß ergossen, 
Die fremde Form durchströmt mit deutschem Blut. 
Da ward, im Ringen tiefer nur genossen, 
Zum Eigentum uus das entlehnte Gut, 
Und keine Blume, die mit frohem Glanze 
Der Menschheit aufging, fehlt in unsrem Kranze. 
14. Epigramme. 
1. Was doch heißt Ideal, als das Wirkliche, das sich zur Wahrheit 
Aus des Kiinstlers Gemüt wiedergeboren erhöht? 
Was zufällig allein, gor aus; doch es blieb das Besondre, 
Wie sich der Traube Natur stets noch im Wein dir verrät. 
2. Wahrheit setzt sich zum Ziele die Kunst, nicht sinnliche Täuschung, 
Ja, sie vernichtet sich selbst, wo sie zu täuschen versucht; 
Leben atmet des Künstlers Gebild im glänzenden Marmor. 
Gieb ihm Farben, und tot starrt es als Leiche dich an, 
3. Das ist des Lyrikers Kunst, aussprechen, was allen gemein ist, 
Wie er's im tiefsten Gemüt neu und besonders erschuf; 
Oder dem Eigensten auch solch allverständlich Gepräge 
Leihn, daß jeglicher drin staunend sich selber erkennt. 
4. Unübersetzbar dünkt mich das Lyrische. Ist doch der Ausdruck 
Hier von des Dichters Geblüt bis in das kleinste getränkt. 
Auch in verwandelter Form noch wirken Bericht und Gedanke, 
Doch die Empfindung schwebt einzig im eigensten Wort. 
5. Wechselnd färbt, wie der Strahl des Gefühls, sich des Lyrikers Ausdruck, 
Aber des Epikers Stil fließe wie reiner Krvstall; 
Klar sei jede Gestalt, und unsichtbar wie das Licht nur 
Über dem Ganzen dahin schwebe des Dichters Gemüt. 
6. Als ein Vergangnes erzählt dir der Vorzeit Sage das Epos, 
Aber ein werdendes Los zeigt der Dramatiker dir; 
Weit fort streckt sich der Raum, bunt wechseln die Helden, und sichtbar 
Tritt aus dem hohen Gewölk waltend die ewige Macht, 
Während du bier aus der menschlichen Brust ureigensten Tiefen 
Jegliche That aufblühn siehst in ein einig Geschick. 
7. Nicht im Sieg der Idee ruht einzig die tragische Sühnung, 
Auch die erhabene Form bändigt verklärend das Weh; 
Nimm der Antigone nur und dem Oedipus ihren Kothurngang, 
Und sie erhöhn nicht mehr, nein, sie zerreißen das Herz. 
8. Wirken will der Poet, wie der Redner. Aber das Höchste 
Bleibt ihm die Schönheit doch, die er zu bilden sich sehnt. 
Jener behält den Erfolg im Blick stets, dieser erreicht ihn, 
Wenn er ihn über dem Drang seligen Schaffens vergißt. 
9. Architektur und Musik, euch beide begrüß' ich als Schwestern, 
Die ihr die zwingende Kraft ewiger Maße bewährt. 
Was dort sichtbar im Raum als Verhältnis das Auge bezaubert, 
Bannt hier wogenden Klangs in der Bewegung das Ohr. 
Annette von Aroste-Kükstioff. 
Geb. am 10. Jan 1797 auf Haus Hülshoff bei Münster, lebte 
studierend, dichtend und forschend auf dem Landgute Rüschhaus, dann wegen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.