Full text: Deutsche Geschichte von der Thronbesteigung Friedrichs des Großen bis zur Gegenwart (Teil 3)

Vierter Abschnitt. Wilhelm I. 
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lesung der Ansprache an das deutsche Volk. Am Schlüsse derselben hieß 
es: „Uns aber nnd Unfern Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott 
verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht 
an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und 
Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohl- 
fahrt, Freiheit und Gesittung." Kaum waren die letzten Worte 
verklungen, als der Großherzog Friedrich von Baden dem neuen 
Kaiser das erste Hoch ausbrachte. Tie erlauchte Versammlung stimmte 
begeistert ein. und in die brausenden Rufe mischten sich die Klänge des 
„Heil dir im Siegerkranz". 
Die zwischen den verbündeten Regierungen vereinbarte Verfassung 
des Deutschen Reiches wurde von dem ersten deutschen Reichstage 
angenommen und trat am 16. April 1871 in Kraft. Sie lehnt sich an 
die Verfassung des Norddeutschen Bundes an, weicht aber besonders darin 
von ihr ab. daß einzelnen Staaten (Bayern und Württemberg) wichtige 
Sonderrechte, namentlich in Bezug auf das Heerwesen und die Post- 
und Telegraphenverwaltung, eingeräumt werden. 
Das alte und das neue Reich. Das Deutsche Reich ist kein willkürlich 
geschaffenes Staatengebilde, wie z. B. die kurzlebigen Vasallenstaaten Napoleons I., 
sondern das natürliche Ergebnis unserer geschichtlichen Entwicklung. Es ist keine 
neue Schöpfung, sondern die Wiederherstellung' des alten Reiches. Aber 
es hat diejenigen. Einrichtungen aufgegeben, welche sich entweder überlebt oder 
als schädlich für den Bestand des Ganzen erwiesen hatten, und es hat diejenigen 
Neuerungen angenommen, welche den Bedürfnissen unserer Nation entsprechen. 
Das neue Reich ruht wie das alte auf der Kraft des deutschen Volkes. 
Aber während das alte als der Erbe des weströmischen Reiches den Anspruch auf 
die Weltherrschaft erhob (Römisches Reich deutscher Nation), begnügt das neue 
sich mit einem festbegrenzten nationalen Gebiet (Deutsches Reich) und betrachtet 
daher „die Ordnung seiner eigenen Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber 
auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbteil". (Aus der Thronrede bei der 
Eröffnung des ersten deutschen Reichstages.) Das alte Reich, aus der engen 
Verbindung mit dem Papsttum und der Kirche hervorgegangen, trug einen halb 
geistlichen Charakter (heiliges römisches Reich); sein Oberhaupt führte den 
1 So heißt es am Schlüsse der Thronrede Wilhelms I. an den ersten deutschen 
Reichstag (21. März 1871): „Möge die Wiederherstellung des Deutschen 
Reiches für die deutsche Nation auch nach innen das Wahrzeichen neuer Größe 
sein!" Und die Inschrift des Nationaldenkmals auf dem Niederwald lautet: „Zum 
Andenken an die einmütige siegreiche Erhebung des deutschen Volkes und an die 
Wiederherstellung des Deutschen Reiches 1870—1871." — Das Wappen 
des neuen Reiches ist der Doppeladler, d. h. der alte einköpfige Reichsadler mit 
dem preußischen Adler auf der Brust. Die Farben sind Schwarz-Weiß-Rot 
(S. 838), welche den Zusammenhang mit der deutschen Geschichte besser wahren 
als die sog. alten deutschen Farben Schwarz-Rot-Gold.
	        
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