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Sagen-Anhang.
3. (S. 12.) Unter Kodrus' Regierung machten die Dorier des
Peloponnes einen Angriff auf die Athener und brachten sie in große
Bedrängnis. Das Orakel zu Delphi verhieß den Doriern den Sieg, wenn
sie Kodrus nicht töteten. Kaum hatte der hochherzige König das vernommen,
als er auch schon entschlossen war, sich für sein Volk zu opfern. In
dürftiger Kleidung schlich er sich in das Lager der Feinde. Hier begann
er einen Streit mit den Kriegsleuten und wurde von diesen erschlagen.
Sterbend bekannte er sich als den König von Athen. Da erfaßte die Dorier
große Furcht, und sie zogen ab, ohne die Athener noch weiter zu belästigen.
Diese aber beschlossen, an Stelle des Kodrus keinen neuen König zu wählen,
da niemand würdig sei, sein Nachfolger zu werden.
4. (S. 13, 18.) Solon soll auch zu dem reichen König Krösus von
Lydien gekommen sein. Dieser führte ihn eines Tages durch seine wohl¬
gefüllten Schatzkammern und fragte ihn dann, wen er für den glücklichsten
von allen Menschen hielte, die er kennen gelernt habe. Er hoffte im stillen,
seinen eignen Preis aus des Weisen Munde zu vernehmen. Der aber
nannte air erster Stelle den Athener Tellns, der sein Haus wohl bestellt
hatte und im Kampfe fürs Vaterland nach errungenem Siege gefallen war,
und an zweiter Cleobis und Biton aus Argos, die nach einer That frommer
Kindespflicht, wegen der sie allgemeinen Beifall fanden, in sanftem Tode
entschlummert waren. Krösus aber konnte er deshalb nicht glücklich nennen,
weil er das Ende seines Lebens noch nicht erfahren hatte.
An diese Unterredung dachte Krösus, als er, von Cyrus besiegt, aus
dem Scheiterhaufen stand, an dem die Flammen bereits emporleckten.
Laut rief er dreimal den Namen des griechischen Weifen aus. Da ward
Cyrus neugierig und ließ sich sein Erlebnis erzählen. Durch die Erzählung
nachdenklich gestimmt, schenkte er seinem Feinde das Leben.
5. (S. 17.) Dem Harpagus verdankte Cyrus seine Rettung, als er
noch ein unmündiges Kind war. Da ein Traum seiner Mutter Mandane,
der Tochter des Astyages, diesem dahin gedeutet worden war, daß ihr Sohn
an seiner Statt über ganz Asien König werden würde, so hatte Astyages,
um seinen Thron besorgt, Harpagus den Befehl gegeben, das Kindlein zu
töten. Dieser konnte sich aber nicht zu der That entschließen, sondern
übergab den Knaben einem von den königlichen Rinderhirten mit dem
Aufträge, ihn im Gebirge auszusetzen. Der ließ sich von feiner Frau
überreden, ihn zu Behalten und großzuziehen, als ob es ihr eigner Sohn
wäre. Als er zehn Jahre alt geworden war, spielte er einst im Dorfe
mit andern Knaben gleichen Alters. Im Spiele wurde er von ihnen zu
ihrem Könige erwählt. Als nun einer der Mitspielenden, der Sohn eines
vornehmen Meders, ihm nicht gehorchen wollte, ließ er ihn greifen und
züchtigte ihn derb. Der vornehme Knabe lief weinend zu feinem Vater,
und beide gingen zu Astyages. Auch Cyrus wurde vor den König gerufen.
Durch das unerschrockene Auftreten des Knaben und dessen Ähnlichkeit mit
seiner Tochter stutzig gemacht, forschte er weiter nach dessen Herkunft und
erfuhr, daß es sein eigner Enkel war. Der Traum ängstigte ihn nicht mehr;
denn er wähnte, er fei in jenem Spiel in Erfüllung gegangen.