Sagen-Anhang.
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11. (S. 57.) Der Sohn des Tarquinius Priscns, Lucius, der zugleich
der Schwiegersohn des Servius Tullius war, erschien eines Tages im
Rathaus mit den königlichen Abzeichen und ward von seinen Helfershelfern
als Fürst begrüßt. Auf das Gerücht von den schlimmen Vorgängen eilte
Servius unerschrocken herbei. In der Thür stehend, schalt er Tarquinius
einen Empörer: dieser ergriff den schwachen Greis und stürzte ihn die
steinernen Stufen hinab. Blutend und halbtot ward Servius von seinen
Getreuen aufgehoben und weggeführt; aber ehe er in seine Wohnung gelangte,
erreichten und ermordeten ihn nachgesandte Diener des Tarquinius: die
Leiche ließen sie im Blute liegen.
Da kam seine Tochter Tullia herzugefahren, um ihren Gemahl als
König zu begrüßen. In einer Gasse, die von der Zeit an den Namen der
„verruchten" trug, lag die Leiche des Vaters vor ihr. Die Maultiere
wichen zurück, der Knecht hielt die Zügel an; sie gebot ihm das Gespann
über den Toten hinweg zu treiben: Blut bespritzte den Wagen und ihr Gewand.
12. (S. 57.) Als das römische Heer einst die benachbarte Stadt
Ärdea belagerte, erhob sich beim Wein zwischen den Söhnen des' Königs
und ihrem Vetter L. Tarquinius, der als Fürst in Collatia wohnte, ein
Streit über die Tugend ihrer Frauen. Der Krieg ruhte: man stieg zu
Pferde, um sie sofort zu überraschen. In Rom schwelgten die fürstlichen
Frauen bei einem Gastmahl unter Blumen und Wein; von dort eilten die
Jünglinge nach Collatia, wo in später Nachtstunde Lucretia im Kreise
ihrer Mägde spann. Der Königssohn Sextus, von böser Lust entbrannt,
kam am folgenden Tage nach Collatia zurück und kehrte im Hause des
Vetters ein, deffen Gemahlin er die schimpflichsten Mißhandlungen zufügte.
Als er das Haus verlassen hatte, berief sie ihren Vater und ihren Mann
zu sich, es sei Gräßliches geschehen. Diese, begleitet von einem Neffen des
Königs, Brutus, fanden die Trostlose in Trauerkleidern in starrer Betäubung
sitzen, vernahmen die Greuelthat und gelobten ihr Rache. Da stieß sich
Lucretia, die den ihr zugefügten Schimpf nicht überleben wollte, einen Dolch
ins Herz. Sie trugen die Tote auf den Markt von Collatia; die Bürger
sagten Tarquinius ab und gelobten den Befteiern Gehorsam. Die Jüngeren
begleiteten den Leichenzug nach Rom. Hier wurden die Thore geschlossen,
und das Volk wurde von Brutus zur Versammlung berufen. Alle Stände ent¬
brannten in einem einigen Gefühl: einstimmig entsetzte der Beschluß der
Bürger den letzten König seiner Würde und sprach über ihn und die
Seinigen Verbannung aus.
13. (S. 60.) Als das etruskische Heer die fliehenden Römer über
die hölzerne Tiberbrücke verfolgte, trat ihm Horatius Cocles, der mit
der Bewachung der Brücke betraut worden war, mit zwei Genossen entgegen.
Während sie die Andrängenden abwehrten, riß auf ihr Gebot die Menge
hinter ihnen die Brücke ab. Zuletzt sandte Cocles auch seine Gefährten
zurück und widerstand allein, bis das Krachen der hinstürzenden Balken
und der Zuruf der Arbeitenden verkündeten, das Werk sei vollbracht. Da
flehte er den Flußgott um Schutz an, sprang in die Fluten und entkam
unter dem Hagel der feindlichen Geschosse in die Stadt.