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Sagen-Anhang.
14. (S. 60.) Die Römer mußten als Unterpfand des Friedens
Porsena 20 vornehme römische Jünglinge und Jungfrauen stellen. Unter
ihnen befand sich Clölia. Sie entfloh mit den übrigen Mädchen in der
Nacht aus dem etruskischen Lager, durchschwamm den Tiber und kam mit
ihren Gefährtinnen wohlbehalten in Rom an. Vom Senat wieder zu den
Feinden zurückgeschickt, wurde sie von Porsena wegen ihrer Kühnheit so
sehr bewundert, daß er ihr und, wen sie sich noch von den Geiseln aus¬
suchen würde, die Freiheit schenkte.
15. (S. 60.) Als die Belagerten schwer vom Hunger geplagt
wurden, unternahm es mit des Senats Genehmigung ein Jüngling,
C. Mucius mit Namen, den feindlichen König zu töten. Er gelangte bis
ins Königszelt, wo er einen königlichen Schreiber anstatt Porsenas niederstieß.
Überwältigt und entwaffnet, legte er, der Folter spottend, die ihn erwartete,
seine Rechte in die Glut des Altarfeuers. Der König hieß ihn in Frieden
ziehen, und Sriivola, wie er fortan genannt ward, weil ihm nur die linke
Hand geblieben war, mahnte ihn zum Dank, Frieden zu schließen; denn
300 Jünglinge hätten sich verschworen, ihr Vaterland von ihm zu befreien:
ihn habe das Los getroffen, der erste zu sein.
16. (S. 61.) Die in die Stadt eindringenden Gallier fanden alles
öde und ausgestorben: nur auf dem Marktplatz erblickten sie die greifen
Senatoren, welche Wesen einer andern Welt zu sein schienen. Zweifelhaft,
ob nicht die Götter herabgestiegen wären, um Rom zu retten oder zu rächen,
näherte sich ein Gallier einem von ihnen und berührte seinen weißen Bart.
Der Greis schlug ihn zornig mit dem elfenbeinernen Scepter über den Kopf:
der Barbar hieb ihn nieder, und alle wurden umgebracht.
17. (S. 61.) Man ward einig, daß die Gallier 1000 Pfund Gold
dafür empfangen sollten, daß sie Rom und die Landschaft räumten. Als es
abgewogen ward, ließ der gallische Heerführer falsches Gewicht bringen,
und als ein Römer über die Ungerechtigkeit klagte, legte er obendrein
Schwert und Wehrgehenk auf die Schale mit dem Ausruf: „Wehe den
Besiegten" („Vae victis“).
18. (S. 62.) Menenius Agrippa soll die Plebejer durch folgende
Fabel versöhnlich gestimmt haben:
In der Zeit, wo im Menschen noch nicht alles so einstimmig war
wie jetzt, sondern jedes Glied seinen eignen Willen, seine eigne Sprache
hatte, da verdroß es die übrigen Glieder, daß ihre Sorge und Mühe¬
waltung alles nur für den Magen herbeischaffe, der ruhig in der Mitte
liege und nichts anderes thue, als daß er sich au den ihm gebotenen
Genüssen sättige. Sie verschworen sich also, daß die Hand keine Speise
mehr zum Munde führen, der Mund sie nicht aufnehmen und die Zähne
sie nicht zermalmen sollten. Während sie aber so in ihrem Ärger den
Magen durch Hunger bändigen wollten, kamen nicht nur die Glieder, sondern
der ganze Körper zur äußersten Abzehrung. Da leuchtete ihnen ein, daß
auch der Magen nicht müßig sei, sondern eine ernährende Thätigkeit habe,
wenn er selbst wohl genährt würde, insofern als er das durch Verdauung