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Neueste Geschichte. 3. Periode. Oestreich.
weniger stürmisch gewesen als in Preußen, und das Bild, welches
die im Juli zusammengetretene Reichsversammlung darbot, war
insofern ein noch verworreneres als das der preußischen National¬
versammlung, weil in jener die verschiedensten Volksstämme unter'
einander gemischt waren, und eine Menge Abgeordnete die deutsche
Sprache gar nicht verstanden, in welcher sie über die künftige
Reichsverfassung mitberathen sollten. Es versteht sich, daß dabei
an geordnete Verhandlungen nicht zu denken war; noch dazu fand
der Reichstag unter noch ungünstigeren Verhältnissen statt, als in
Preußen. Abgesehen von dem Aufstande, welcher in Oestreichs
Hauptstadt immer von neuem tobte, war in den italienischen Be¬
sitzungen der Krieg heftig entbrannt; Böhmen und Ungarn drohten
sich von Oestreich loszureißen, und die Finanznoth des Staats war
auf den höchsten Punkt gestiegen. In kurzer Zeit boten die Ver¬
handlungen des Reichstages ein Bild der allgemeinen Verwirrung
und Ratlosigkeit; die demokratischen Leidenschaften, welche die
unteren Volksclassen aufregten, machten sich auch in der Versamm¬
lung geltend und die maßlosesten Anträge wurden an die Regierung
gestellt. Unterdeß hatte das anarchische Treiben in Wien immer
zugenommen. Je mehr die Arbeiter verarmten, desto williger liehen
sie den Aufwieglern ihr Ohr. Durch Volksversammlungen, Flug¬
blätter und Maueranschläge wurden sie täglich zu neuer Uuzuftieden-
heit aufgereizt, und keine der sogenannten Sicherheitsbehörden, noch
auch die neugeschaffene Nationalgarde hatte Kraft und Entschlossen¬
heit, dem wilden Treiben entgegen zu treten. Nach und nach konnten
denn die entfesselten Pöbelhaufen sich geradezu die Herrschaft über
die Behörden anmaßen. Sie erzwangen die Zntheilung öffentlicher
Arbeit für einen von ihnen selbst bestimmten Lohn, und als man
diesen wegen der allgemeinen Geldbedrängniß herabsetzen wollte,
entstand ein blutiger Aufruhr,(23. August), welchen die Bürger
mit Mühe zu dämpfen vermochten, und welcher sich wenige Wochen
darauf wiederholte. Die gefährlichste Erhebung aber sollte erst in
Folge der ungarischen Ereignisse eintreten.
Der Banus Jellachich von Kroatien hatte sich schon seit
längerer Zeit dem Gehorsam gegen das ungarische Ministerium,
welchem er untergeordnet war, entzogen und wurde von den Magyaren
bekriegt, von der östreichischen Regierung aber insgeheim unterstützt.
Die Magyaren wandten sich deshalb an den Reichstag, ihre De¬
putation aber wurde abgewiesen. Durch aufgefangene Briefe über¬
zeugten sich die Ungern, daß der Kriegsminister Latour mit dem