88 Neueste Geschichte. 1. Periode. Frankreich. 
auf einer andern Straße ziehen; aber die Russen warfen ihn auf 
die zurück, welche auf dem Herwege verwüstet war, während sie 
selbst seitwärts zogen. Von allen Seiten wurden die Franzosen 
von den Kosacken umschwärmt, die ihnen Tag und Nacht keine 
Ruhe ließen. Zu dem Hunger, der, vom Anfange des Rückznges 
au, am Leben der Menschen und Pferde nagte, kam vom 7. Novem¬ 
ber an noch eine fürchterliche Kälte. Meist ohne Pelze, mit Lumpen 
nur bedeckt, fielen die Franzosen schaarenweis erstarrt zu Boden 
und wurden alsbald vom Schnee wie mit einem großen Leichen¬ 
tuche bedeckt. Tausende von Raben zogen ihnen nach, um die 
Leichen zu zerfleischen, und ehe noch die Ermatteten todt waren, 
wurden ihnen schon von den stärkeren die Kleider abgerissen. Das 
Gepäck mußte aus Mangel an Pferden bald stehen bleiben, und 
gierig fielen die Hungrigen über die gefallenen Pferde her. In 
Smolensk hoffte man Vorräthe zu finden; aber theils war wenig 
da, theils ließen die nacheilenden Kosacken keine Zeit zum Aus¬ 
ruhen. Nun eilten von drei Seiten russische Heere herbei, um 
dem täglich mehr schmelzenden französischen Heerhaufen den Rück¬ 
zug über die Beresina, einem Nebenfluß des Dneprs, abzu¬ 
schneiden. Zwar gelang es Napoleon, zwei Brücken über den Fluß 
zu schlagen; aber noch war kaum die Hälfte hinüber, als die 
breitere einbrach, und das Geschütz und die Wagen wandten sich 
daher nach der schmälern, die mit keinem Geländer versehen war. 
Dazu kam, daß man schon das Hurrah der anrennenden Kosacken 
und das Sausen der russischen Kanonenkugeln hörte. Jetzt stürzte 
sich alles in wildester Verwirrung nach der Brücke; jeder wollte 
der erste sein; jeder kämpfte um sein Leben. Der Soldat warf den 
Offizier, der Freund den Freund ins Wasser; wer zu Boden fiel, 
war verloren; denn ohne Erbarmen wälzte sich die ganze Menschen- 
fluth über ihn hin, bis er zertreten war. Wie viele wurden nicht 
von den Rädern der Kanonen und Wagen zerquetscht, und die 
über den eistreibenden Strom sich retten wollten, erstarrten oder 
ertranken. Das geschah am 27. November. Zuletzt brach die 
Brücke ein, und was noch jenseits war, meist Schwache, Weiber 
und Kinder, fiel den Russen in die Hände. An 5000 hatten allein 
bei diesem Uebergange das Leben eingebüßt. *) 
*) Man sah Mütter mit ihren Kindern auf dem Arme sich in den Fluß 
stürzen-und im Strome so lange die Kinder in die Höhe halten, bis die Kräfte 
nachließen und beide ertranken. Eine Mutter hatte eines kleinen Kahns sich be-
	        
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