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suchen. Deshalb haben Männer und Frauen Besuchsvereine gebildet,
deren Mitglieder, dem Gebote Christi entsprechend, den Notleidenden
Nahrung, Kleidung und Arznei bringen, ihnen dabei aber auch freund¬
lich ein stärkendes und mahnendes Gotteswort sagen.
Einem solchen Besuchsvereine, welcher sich in Hamburg gebildet
hatte, gehörte der Kandidat I o h a n n H i n r i ch W i ch e r n an. Dieser
traf auf seinen Gängen zu den Armen und Kranken eine Menge Kinder,
welche nicht zur Schule gingen, sich auf der Gasse umhertrieben und
alle Schlechtigkeiten verübten, so daß sie wie Heidenkinder verwildert
waren. Um die schlimmsten dieser verwahrlosten Kinder vom Verderben
zu retten, nahm Wichern eine Anzahl derselben im Jahre 1833 in ein
ihm überlassenes strohgedecktes Haus in Horn bei Hamburg auf. Der
frühere Besitzer dieses Hauses hieß Rüge: aus dem plattdeutschen Aus¬
druck „Ruges Huus" ist der Name „Rauhes Haus" entstanden. Da
der barmherzige Wichern die Kinder liebevoll wie eigene erzog, so
wurden eine solche Menge verwahrloster Kinder zu ihm gebracht, daß
mehrere Häuser erbaut werden mußten. Bald konnte Wichern die
Arbeit an den Kindern nicht mehr allein ausrichten und rief junge
Männer, meist Handwerker, zu sich, welche bereit waren, unserm Heiland
an den Kindern zu dienen. Diese bildete er zu Erziehern in seiner
und in anderen ähnlichen Anstalten aus, die man Rettungshäuser nennt.
Andere junge Leute machte er geschickt zur Pflege der Gefangnen, der
im Kriege verwundeten Soldaten, zur Erziehung blöder Kinder und
zur Verwaltung von Herbergen zur Heimat.
In demselben Jahre 1833, in welchem Wichern das Rauhe Haus
begründete, nahm der Pastor Theodor Fliedner in Kaisers¬
werth a. Rh. in sein Gartenhüuschen ein Mädchen auf, welches im
Zuchthause gesessen hatte, und welches darum niemand in Dienst
nehmen wollte. Da das Mädchen mit Gottes Hilfe gebessert wurde,
vertraute man dem liebevollen Pastor andere Hilfsbedürftige an. Ihre
Zahl wuchs dermaßen, daß Fliedner christlich gesinnte Frauen und
Jungfrauen um Mitarbeit bat. Er unterwies nach und nach viele
Tausende von Mädchen und Frauen, daß sie geschickt wurden, um als
Krankenpflegerinnen und Lehrerinnen in Kleinkinderschulen thätig zu
sein. Die Frauen und Jungfrauen, welche um Christi willen Kranke
und Arme pflegen, heißen „Diakonissen" oder „Schwestern".
Sowohl das Rauhe Haus als die Kaiferswerther Anstalt sind so
gewachsen, daß die dazu gehörigen Häuser Dörfern gleichen; ganz
ähnlich verhält es sich mit den verwandten Anstalten in Bielefeld und
Neinstedt.