Full text: Für den Unterricht in höheren Mittelklassen berechnet (Kursus 3)

Frankreich und England im 14. und 15. Jahrhundert. 153 
den zugesprochenen Herrschersitz besteigen konnte, rief ihn (1422) der Tod ab. 
Drei Monate nach Heinrich V. starb auch der wahnsinnige Karl VI. 
und sein Sohn Karl VII. (1422—1461) wurde von der Partei der Orleans 
als rechtmäßiger Nachfolger anerkannt. Gegen ihn brachen vereint Eng- 
länder und Burgunder auf, eroberten alles Land bis an die Loire und 
schritten zur Belagerung von Orleans, um sich einen Weg nach dem 
südlichen Frankreich zu bahnen. Da, in der höchsten Not, erhielt König 
Karl unerwartete Hilfe. 
2. Es war den 1. März des Jahres 1429, als eine Jungfrau in Johanna 
männlicher Kleidung, von zwei Knappen und vier Dienern begleitet, in Dark 
Karls VII. Palast erschien und sich als die Befreierin Frankreichs ankündigte. *429. 
Sie hieß Johanna Dark, war die Tochter ehrbarer Landleute und 1412 
in dem Dorf Domremy^ geboren. Unter den Beschäftigungen ihres 
Standes war sie herangewachsen; doch neigte sie frühzeitig zur religiösen 
Schwärmerei. Mit tiefem Schmerz erfuhr sie das Elend ihres Vaterlandes, 
und die Sehnsucht nach Besserung des Zustandes verband sich mit den 
frommen Gefühlen ihres Herzens so lebendig und so innig, daß sie himm- 
tische Gestalten zu sehen glaubte, von denen sie aufgefordert wurde, Orleans 
zu entsetzen und den Dauphin zur Krönung nach Reims zu führen. Von 
diesem Glauben getrieben, begab sich das 17jährige Mädchen an das Hof- 
lager zu Chinon, unweit Orleans. Nachdem sie alle Bedenken des Königs 
und seiner Umgebung überwunden hatte, ward ihr ein kleines Truppen¬ 
korps anvertraut. Auf prachtvollem Streitroß erschien nun Johanna; 
vor ihr her warv ein Banner getragen, auf welchem der Allmächtige, den 
Erdball haltend, von Lilien und zwei knieenden Engeln umgeben, abge- x 
bildet war, und worauf die Namen standen: „Jesus, Maria". Dem 
Volk kam sie als ein überirdisches Wesen vor, und begeistert griff man zu 
den Waffen. . 
An der Spitze des Heeres eilte die Jungfrau gen Orleans, um der -Mmung 
hartbedrängten Stadt Lebensmittel und Mannschaften zuzuführen. Zuvor r ean ' 
jedoch stellte sie unter den Soldaten Zucht und Ordnung her: alle mußten 
beichten und sich dem Schutz des Himmels empfehlen. Fast ohne Wider- 
stand kam man vor Orleans und gelangte, während die Belagerten einen Aus¬ 
fall machten, samt der Zufuhr am 29. April 1429 glücklich in die Stadt. 
Mit lautem Jubel wurde Johanna empfangen. Ihr erster Gang war 
nach der Kirche, um Gott zu danken ; dann begab sie sich nach dem herzog- 
lichen Palast, wo sie aber ganz einfach leble. Unter der Anführung der 
Jungfrau hob sich mit jedem Tag der Mut des französischen Heeres, 
während im englischen Lager ein Grauen, wie vor Geisterspuk, vor dem 
rätselhaften Mädchen einherging und den Widerstand der Krieger lähmte. 
Es war kein Halten mehr unter den englischen Soldaten, sobald es hieß: 
„bie Jungfrau kommt 1" Das ganze Belagerungsheer geriet bald so außer 
Fassung, baß schon nach 9 Tagen bie Belagerung aufgehoben werden 
mußte. 
So hatte die Jungfrau ihr erstes Versprechen erfüllt und schickte sich 
nun an, auch ihr zweites zu lösen. Sie begab sich nach Tours zum 
König, knieete vor ihm nieder und sprach: „Wohledler Dauphin, kommet 
1 Domremy, Dorf in Lothringen, am linken Ufer der Maas.
	        
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