Full text: Erzählungen aus der Geschichte des Mittelalters in biographischer Form (Teil 1)

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rischer Rede von dem unzählbaren Volke Roms und seiner 
waffenfähigen Mannschaft sprach, antwortete Alarich höhn- 
lachend: „Je dichter das Gras, desto leichter das Mähen!" 
Und als sie seine Bedingungen Zu hoch fanden und fragten, 
was er ihnen denn übrig lassen wollte, erwiderte er: „Eure 
Seelen!" Endlich kam man überein, daß sich die Stadt mit 
5000 Pfund Goldes, 30 000 Pfund Silbers und einer Menge 
anderer wertvoller Gegenstände loskaufen sollte. So viel 
Gold konnten die Römer nicht auftreiben und mußten daher 
die goldene Bildsäule der Virtus oder Mannhaftigkeit ein- 
schmelzen, und es war, als ob damit auch der letzte Rest 
aller Tapferkeit mit eingeschmolzen wäre. 
Alarich zog von Rom ab. Da aber Honorius den Ver- 
trag nicht bestätigte und die Forderungen des Gotenkönigs 
nicht erfüllt wurden, so zog dieser im Jahre 409 zum zweiten 
Male vor Rom. Die Stadt mußte sich ergeben. Alarich 
setzte den Honorius, der sich zu Ravenna aushielt, ab, und 
erhob den Stadthauptmann Attalus zum Kaiser. Doch 
auch mit diesem zerfiel Alarich, drang 410 zum dritten Mal 
gegen Rom und eroberte es in einem nächtlichen Sturm. 
Das Schicksal, das die stolze Roma in den Tagen ihres 
Glückes so mancher Stadt bereitet hatte, brach jetzt über diese 
selbst herein; aber die Sitten der Goten waren durch das 
Christentum schon so gemildert, daß es ihr nicht so unbarm- 
herzig erging, wie sie es ihren Feinden zu thun gewohnt ge- 
Wesen war. Die Stadt wurde zwar drei Tage lang geplün- 
dert, aber Kirchen, Geistliche und Flüchtlinge geschont, und 
wenn auch einzelne Mord und andere Frevel verübten, so 
ging dies doch nicht von der Grausamkeit des ganzen Heeres 
aus. Ja man erzählt folgenden Zug christlichen Sinnes: Ein 
Gote trat, um zu plündern, in das Haus einer Frau ein, 
bei der sich silberne und golde-ne Kirchengefäße befanden, die 
ihr zur Aufbewahrung übergeben worden waren. Als der 
Soldat sie nehmen wollte, belehrte ihn die Frau über die 
Bestimmung der Gefäße. Da ließ der Soldat sogleich davon 
ab und machte dem König die Anzeige. Alarich befahl die 
heiligen Gefäße feierlich in die Kirche zurückzutragen. Die 
Römer, durch solche Großmut begeistert, begleiteten die Ge- 
fäße unter Gebet und Gesang, und die plündernden Goten, 
Stacke, Mittelalter. 9
	        
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