204
Die neuesten Ereignisse im Auslande.
(Volksvertretung) 1906, konnten zunächst noch keine geordneten Ver-
Hältnisse schaffen. Erst nach und nach wurde die Regierung der
Empörungen Herr. Die innere Lage ist aber so. daß nur von ernster,
anhaltender Reform arbeit eine wirkliche Besserung der Verhältnisse
zu erwarten ist. Die äußeren Machtfragen müssen deshalb in der
russischen Politik zunächst vor der Lösung der sozialen Frage zurück¬
treten. — Unter der Regierung des Zaren Nikolaus II. kam ein festes
Bündnis zwischen Rußland und Frankreich zustande. Was die
russische Bureaukratie in den Ostseeprovinzen verschuldet hatte, mußten
die Deutschen entgelten, die hier seit Jahrhunderten auf einem vor-
geschobenen Posten stehen und ihr Volkstum, ihre Sprache, ihren
protestantischen Glauben nur schwer gegen russische Machtansprüche
behaupten können. Alle ihre geistigen und materiellen Fortschritte
verdankten die Letten den Deutschen. Nichtsdestoweniger benutzten sie
die Unruhen des Jahres 1906 zu einer Verschwörung (die sog.
lettisch-esthnische Revolution), welche den Wohlstand der baltischen
Provinzen schwer schädigte.
Die Türkei, der man schon öfters das Ende prophezeiht hatte,
sollte durch innere Reformen an der Wende des Jahrhunderts den
Charakter eines modernen europäischen Staates gewinnen. In einem
Kriege mit Griechenland 1897 um den 'Besitz Kretas, dessen Be-
wohner den Anschluß an Griechenland forderten, war die Türkei siegreich
gewesen. Nur der Zusammentritt der Großmächte, die Kreta unter
ihren Schutz stellten und ihm eine selbständige Verwaltung gaben,
verhinderte eine Gebietsabtretung Griechenlands. — In der Türkei
bekam die Partei der Reform- oder Jungtürken, die ihr Land
westeuropäischen Einflüssen, moderner Zivilisation zugänglich machen
wollen, mehr und mehr die Oberhand. Das Programm der Reform¬
türken erstrebte eine Umwandlung auf allen Gebieten des öffentlichen
und privaten Lebens. Aufs unmittelbarste berühren diese Neuerungen
das Dasein der Frau, die nun endlich von der unfreien Harems¬
existenz erlöst werden soll. 1909 war die Partei der Jungtürken
so stark, daß sie es wagen konnte, von Saloniki aus eine Revolution
vorzubereiten, den mißtrauischen und launenhaften Sultan Abdul
Hamid II., der, von der Hofbeamtenpartei geleitet, allen volks¬
tümlichen Fragen unzugänglich war, in feiner Residenz, dem Jildiz-
Kiosk zu belagern und einen neuen Herrscher einzusetzen, unter dem die
Reformen und die konstitutionelle Regierung dann auch sofort in Kraft
traten. Mit Mohamed V. hält die moderne Zeit ihren Einzug. Die
Frauen der Minister und hohen Staatsbeamten wurden sogar in offizieller
Audienz empfangen; dies war der erste Damenempfang im Osmanenreiche.
<rot>