Marie Antoinette.
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Stall, die Futterspeicher, zu denen man auf Mahagonileitern hinan-
stieg. Bald kamen hinzu eine Mühle, in welcher der König das
Müllerhandwerk betrieb, ein Schulhaus, in dem der Graf von Pro-
vence Abcschützen um sich versammelte, während sein Bruder, der Graf
von Artois, als Flurschütz in einem Wächterhäuschen residierte. Die
jugendschöne, muntere Königin durchstreifte ihr kleines Paradies im
weißen Kattunkleide, mit dem gekreuzten Florhalstuch, auf dem Kopf
einen breitrandigen Schäferhut, bald ein französisches Chanson, bald
ein Volksliedchen aus der lieben österreichischen Heimat trillernd,
denn Marie Antoinette war sehr musikalisch. Sie selbst spielte ver-
schiedene Instrumente, wie Laute, Harfe und Claveein. Unter den
Gegenständen, die in dem Schlosse zu Versailles das Andenken an
die Königin wachhalten, gesammelt von den letzten Bourbonen, be-
findet sich auch eine alte kunstvolle Spieluhr, die jahrzehntelang ver-
stummt war. Wer die Uhr erblickte, bewunderte sie, aber niemand
dachte daran, dieses Kunstwerk, das so enge mit dem Leben der Königin
verknüpft war und stets in ihren Privatgemächern gestanden hatte,
wieder herstellen zu lassen. Erst in unseren Tagen lenkte ein alter
Royalist (Anhänger des Königtums) die Aufmerksamkeit der sranzö-
sischen Regierung auf dieses kleine Kunstwerk, so daß sie die Wieder-
Herstellung desselben beschloß. Im Herbst 1909 wurde das Spiel¬
werk, das mehr als ein Jahrhundert geschwiegen hatte, in Anwesenheit
des Unterstaatssekretärs der schönen Künste und einiger geladener
Gäste wieder in Gang gesetzt. Die Anwesenden konnten sich einer
gewissen Bewegung nicht entziehen, als sie die alten Weisen ver-
nahmen, denen die Königin in glücklichen und unglücklichen Tagen
gelauscht hatte.
Das Idyll von Trianon währte nicht lange. Düstere Wolken
zogen am Horizont der königlichen Familie herauf, und fast scheint
es, als müsse Kaiser Joseph IL von Österreich ihr Kommen geahnt
haben, als er unter dem Namen eines Grafen von Falkenstein die
Schwester besuchte und ihr dann von Wien aus ernste Verhaltungs-
maßregeln gab. Die Briefe Josephs II. an Metrie Antoinette
enthalten u. a. folgende Ermahnungen:
„Haben Sie sich auch nur ein einziges Mal gefragt, mit welchem
Rechte Sie sich in die Geschäfte der Regierung und der Monarchie
Frankreichs mischen? Welche Studien haben Sie gemacht, welche
. Kenntnisse haben Sie sich erworben, daß Sie sich einzubilden wagen,
Ihre Meinung müsse für irgend etwas gut sein, namentlich in An-
gelegenheiten, die ein ganz ausgedehntes Wissen erfordern? Sie, eine
liebenswürdige, junge Frau, die den ganzen Tag nur an Ausgelassen-