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zusammengeschmolzenen Heere die Zinnen und Minarets der hei¬
ligen Stadt entgegen.
Am 15. Juli, nachdem mit vieler Mühe die erforder- -i AQQ
lichen Belagerungstürme hergestellt worden, erfolgte der aUi/«7
entscheidende Sturm, über den der Erzbischof Wilhelm von Tyrus
(12. Jahrh.) also berichtet:
„Die Heerhaufen des Herzogs [Gottfrieb] und der Grafen, die auf der
Nordseite die Stadt bestürmten, hatten es mit Gottes Hilfe so weit gebracht,
daß die Feinde erschöpft waren und bereits keinen Widerstand mehr zu leisten
wagten. Die Vormauern waren zerbrochen, der Graben völlig ausgefüllt.
Ungefährdet sonnten sie also an die Mauer herankommen, selten nur wagten
die Feinde, ihnen durch die Schießscharten einen Schaden zuzufügen. Die
aber, welche in dem Belagerungsturm [Gottfrieds] waren, warfen nach Auf¬
forderung des Herzogs in das mit Baumwolle angefüllte Polster und in die
Säcke voll Spreu [an der Mauer] Feuer, das, von betn Nordwind, welcher
eben wehte, angefacht, qualmenden Rauch in die Stadt wälzte. Als dieser
stärker hereindrang, vermochten die, welche die Mauer verteidigen sollten,
weder Mund noch Augen zu öffnen, und, bestürzt und von dem Wirbel des
dampfenden Qualmes betäubt, ließen sie die Bewachung der Mauer im Stiche.
Als der Herzog dies erfuhr, ließ er in aller Eile die Balken, welche sie den
Feinden entrissen hatten, hinausschaffen, sie auf der einen Seite auf die Ma¬
schine, auf der andern auf bie Mauer legen unb bann bie bewegliche Wanb
bes Belagerungsturms nieberlassen. Diese würbe nun auf bie genannten
Balken gelegt unb so eine Art Brücke hergestellt, bie auf einer Unterlage von
hinreichender Festigkeit ruhte. So würbe also bas, was bie Feinde zu ihrem
Schutz herangebracht hatten, zu ihrem Schaden gewendet. Als nun so die
Brücke hergerichtet war, drang zuerst vor allen der ruhmreiche und erlauchte
Held Herzog Gottfried mit seinem Bruder Eustachius in die Stadt, zugleich
die übrigen ermunternd, ihm nachzufolgen".
Nun ergossen sich die Scharen der Kreuzfahrer über die
Mauern hinweg in die heilige Stadt; „Gott will es! Gott mit
uns!" hallte ihr Ruf durch die Straßen. In Strömen floß das
Blut der Ungläubigen unter dem Christenschwerte: kein Alter,
kein Geschlecht ward verschont. Am Abende zogen dann die Er¬
oberer in einer Dankprozession zur Kirche der Auferstehung des Herrn.
Alsbald schritt man zur Gründung eines christlichen König¬
reiches Jerusalem mit den Lehnsfürstentümern Edessa,
Antiochien und Tripolis; erster Herrscher des Kreuzfahrerstaates
wurde der tapfere Gottfried von Bouillon, der sich aber in
Demut nur „Beschützer des Heiligen Grabes," nannte. Zu einer
Erstarkung hat es der neue Lehnsstaat wegen innere Uneinigkeit
und der steten Türkennot nicht gebracht.
4. Die Ritterorden. Außer dem stetigen Zuzuge von abend¬
ländischen Kreuzfahrern wurden die beste Stütze des Christenstaates
im Heiligen Lande die geistlichen Ritterorden. Zu den alter,