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Also vor allem Sammlung! Wenn man ein Buch zur Hand
nimmt, soll man auch mit seinen Gedanken bei dem Buch sein.
Ja, noch mehr: „Während des Lesens", sagt ein neuerer Schulmann
(Cauer), „sollst du dir einbilden, du wärest selber dabeigewesen!"
Lies ferner in Muße, ohne Hast. Wer eine Gegend mit dem Schnell¬
zuge durchfährt, kann unmöglich ihre Schönheiten genießen; dem
sinnigen Fußgänger aber, der offenen Auges um sich schaut, erschließt
sich das Bild der Natur. Schon der römische Kaiser MarkAur4l,
der Philosoph auf dem Throne, sagt im Eingänge seiner „Betrach¬
tungen", wo er mit Dankbarkeit von seinen Lehrern spricht: „Rusticus
lehrte mich, was ich las, genau zu lesen und mich nicht mit einer
oberflächlichen Kenntnis zu begnügen."
Bevor man in die eigentliche Lektüre eintritt, unterrichte man
sich im allgemeinen schon über den Inhalt; Inhaltsverzeichnis und
Kapitelübersicht sind ein wichtiger und notwendiger Bestandteil
jedes planmäßig angelegten Werkes.
Die Lektüre selbst soll stets beginnen, wo auch das Buch beginnt:
vorn. Ein wissenschaftliches Buch enthält auch einen folgerichtigen
Gedankengang, und man wird daher den Verfasser auf dem Wege
seiner Darstellung auch von Anfang an begleiten müssen. Lies also
das Werk in der Ordnung, wie er es geschrieben hat, nicht bald hier,
bald dort, sonst tust du ihm unrecht. Ein ernstes, würdiges Buch will
auch ernst und in strenger Ordnung gelesen sein; für flatterhafte,
flüchtige Leserei ist es nicht geschrieben. Dir selbst aber bringt ein
oberflächliches Umherlesen, ein regellos beliebendes Lesen oder gar
Vorwegnähme der Schlußkapitel mehr Schaden als Nutzen.
Von besonderer Bedeutung für Geist, Richtung und Ziel eines
Buches ist die E i n l e i t u n g. Sie enthält meist allgemeine Richt¬
linien, Grundzüge und Gesichtspunkte, die auf den Inhalt des näheren
vorbereiten und ihn verständlich machen.
Man soll übrigens ein Buch nie „in einem Zuge" lesen. Nichts
wäre verkehrter als das. Es ermüdet den Geist und schmälert die
Aufnahmefähigkeit. Größere Ruhepunkte finden sich in jedem Werke.
Unterbrechung der Lektüre führt zu erneuter Vergegenwärtigung des
Gelesenen und übt das Denken.
Die Lektüre soll also schrittweise vorgehen; nur Ordnung
und bedachtsames Fortschreiten im Lesen vermitteln die rechte
geistige Aufnahme des Inhaltes. Doch braucht man dabei nicht gerade
sklavisch am Buchstaben oder an der Zeile zu haften. Im übrigen
merke man genau auf Gedankengang und Entwicklung; darauf
kommt es für das Verständnis durchaus an.
2. Denke bei derLektüre na d^Wer liest, ohne nach¬
zudenken", sagt Heinze, „hat im Kopfe nur ein Magazin von fremden