Full text: Ausgewählte Abschnitte der Weltgeschichte, Einführung in die geschichtliche Lektüre (Teil 7)

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Gedanken, nichts Eigenes." Und Hilty urteilt mit Recht: „Die 
Bildung fommt nicht bloß vom Lesen, sondern vom Lesen und 
Denken." Der Kopf eines denfträgen lesenden Menschen gleicht der 
Büchse des bettelnden Blinden, die jede Art von Münze ohne Unter¬ 
schied, ob gut oder schlecht, aufnimmt. Er empfängt nur eine un¬ 
geordnete Masse von Eindrücken, in denen er sich selber nicht zurecht¬ 
zufinden weiß, und die ebenso schnell wieder von hinnen ziehen als 
sie gekommen sind. Der Nachdenkende dagegen gestaltet das Gelesene 
gleichsam zu eigenem Wissen: wie die Biene den Saft aus den 
Blumen aufsaugt und bei sich zu süßem Seim verarbeitet. 
Nachdenken heißt auch betrachten, vergleichen. Es ist 
eigene geistige Betätigung und fordert die innere Selbständigkeit: 
nicht auf einmal, aber sicher. 
Welche Rolle soll nun dem Denken gegenüber das Gedächt¬ 
nis spielen? Was bedeuten Zahlen? Daten (data) nennt sie der 
Lateiner, d. H. Gegebenes. Sie stehen fest, sind dem Wandel nicht 
unterworfen. Sie haften an Persönlichkeiten und Geschehnissen, an 
Ort und Zeit, sind mithin etwas Äußerlid)es. Und das Äußerliche ist 
nie die Hauptsache. Aber mit Daten ist der Ablauf des Geschehens 
unzertrennlich verbunden; sie sind daher gleichsam die Voraussetzung 
der Geschichtskenntnis und Zahlen also für diese unerläßlich. 
Aber aus dem Wesen der Geschichte als Entwicklung folgt, daß 
der Zusammenhang der Dinge nach Ursache und Wirkung das 
Wichtigste bleibt. Bloß äußerliches Erfassen von Ereignissen würde 
also die Aufgabe der geschichtlichen Lektüre ganz verkennen; dazu ist 
sie nicht da. Wer sich an ihm genug sein läßt, wäre für die Lektüre 
nicht reif. „Jeder Geschichtsforscher", sagt Herder, „ist mit mir einig, 
daß ein nutzloses Anstaunen und Lernen (der Daten) den Namen der 
Geschichte nicht verdiene." Und Wilhelm von Humboldt bemerkt: 
„Mit der bloßen Absonderung des wirklich Geschehenen ist noch kaum 
das Gerippe der Begebenheiten gewonnen. Was man durch sie 
erhält, ist notwendige Grundlage der Geschichte, der Stoff zu der¬ 
selben, aber nicht die Geschichte selb st." Also keine 
bloße Gedächtnisarbeit bei der Lektüre, sondern vor allem Nach¬ 
denken, Verknüpfen der Ereignisse! Und man klammere sich nicht 
an das Nebensächliche, Kleine: darüber geht der Geist der Lektüre 
verloren. 
Im ganzen beherzige das treffende Wort von Rückert: 
„Auswendiglernen sei dir eine Pflichl, 
Versäume nur dabei In wendiglernen nicht! 
Auswendig ist gelernt, was dir vom Munde fließt, 
Inwendig, was dem Sinne sich erschließt."
	        
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