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Gedanken, nichts Eigenes." Und Hilty urteilt mit Recht: „Die
Bildung fommt nicht bloß vom Lesen, sondern vom Lesen und
Denken." Der Kopf eines denfträgen lesenden Menschen gleicht der
Büchse des bettelnden Blinden, die jede Art von Münze ohne Unter¬
schied, ob gut oder schlecht, aufnimmt. Er empfängt nur eine un¬
geordnete Masse von Eindrücken, in denen er sich selber nicht zurecht¬
zufinden weiß, und die ebenso schnell wieder von hinnen ziehen als
sie gekommen sind. Der Nachdenkende dagegen gestaltet das Gelesene
gleichsam zu eigenem Wissen: wie die Biene den Saft aus den
Blumen aufsaugt und bei sich zu süßem Seim verarbeitet.
Nachdenken heißt auch betrachten, vergleichen. Es ist
eigene geistige Betätigung und fordert die innere Selbständigkeit:
nicht auf einmal, aber sicher.
Welche Rolle soll nun dem Denken gegenüber das Gedächt¬
nis spielen? Was bedeuten Zahlen? Daten (data) nennt sie der
Lateiner, d. H. Gegebenes. Sie stehen fest, sind dem Wandel nicht
unterworfen. Sie haften an Persönlichkeiten und Geschehnissen, an
Ort und Zeit, sind mithin etwas Äußerlid)es. Und das Äußerliche ist
nie die Hauptsache. Aber mit Daten ist der Ablauf des Geschehens
unzertrennlich verbunden; sie sind daher gleichsam die Voraussetzung
der Geschichtskenntnis und Zahlen also für diese unerläßlich.
Aber aus dem Wesen der Geschichte als Entwicklung folgt, daß
der Zusammenhang der Dinge nach Ursache und Wirkung das
Wichtigste bleibt. Bloß äußerliches Erfassen von Ereignissen würde
also die Aufgabe der geschichtlichen Lektüre ganz verkennen; dazu ist
sie nicht da. Wer sich an ihm genug sein läßt, wäre für die Lektüre
nicht reif. „Jeder Geschichtsforscher", sagt Herder, „ist mit mir einig,
daß ein nutzloses Anstaunen und Lernen (der Daten) den Namen der
Geschichte nicht verdiene." Und Wilhelm von Humboldt bemerkt:
„Mit der bloßen Absonderung des wirklich Geschehenen ist noch kaum
das Gerippe der Begebenheiten gewonnen. Was man durch sie
erhält, ist notwendige Grundlage der Geschichte, der Stoff zu der¬
selben, aber nicht die Geschichte selb st." Also keine
bloße Gedächtnisarbeit bei der Lektüre, sondern vor allem Nach¬
denken, Verknüpfen der Ereignisse! Und man klammere sich nicht
an das Nebensächliche, Kleine: darüber geht der Geist der Lektüre
verloren.
Im ganzen beherzige das treffende Wort von Rückert:
„Auswendiglernen sei dir eine Pflichl,
Versäume nur dabei In wendiglernen nicht!
Auswendig ist gelernt, was dir vom Munde fließt,
Inwendig, was dem Sinne sich erschließt."