Full text: Geschichte des deutschen Volkes

Theoderich d. Große. Rundblick. Neue Zustände d. Germanen. § 36—37. 27 
Syrien und Aegypten) ein verkümmertes und vielfach gefährdetes Dasein 
fristete. 
§ 36, Man würde irren, wenn man sich diese Völker als völlig roh, je- 
des nur auf eigene Hand und ohne Plan hinhandelnd, denken wollte. Im Ge- 
gentheil finden wir bei den Helden der Völkerwanderung, — bei Alarich, 
Geiserich, Attila, Theoderich — einen scharfen, weltumfassenden Blick. Zwar 
wissenschaftliche Bildung besaßen sie noch nicht, und Griechen und Römer 6e= 
zeichneten sie deshalb als Barbaren. Selbst Theoderich der Große konnte nicht 
schreiben und unterzeichnete seinen Reimen, indem er mit schwarzer Farbe über 
eine Schablone strich, in welche dieser eingeschnitten war. Aber trotzdem paßt 
der Name von Barbaren im heutigen Sinne nicht mehr auf diese Völker. Ihre 
schon ursprünglich so schöne, klangvolle Sprache war bereits zur Poesie, zum 
Heldenlieds, gebildet. Es fand unter all diesen Völkern ein Verkchr und Zu- 
sammenhang statt. Sänger besonders zogen von einem Königshofe zum andern: 
und was zu Ravenna vor Theoderich gesungen wurde, das konnte in Karthago 
bei den Vandalen, in Paris bei Chlodwig, in Burg-Scheidungen bei den Thü- 
ringern gleichfalls vorgetragen und verstanden werden. Die Sprache bildete 
also ein mächtiges Band unter all diesen Völkern. Boten, Gesandtschaften und 
Briefe gingen und kamen von einem Hofe zum andern; Geschenke wechselten, 
Ehen und Bündnisse wurden geknüpft. So wußten diese Völker von einander 
und kannten ihre Zusammengehörigkeit. Aus diesem Wechselverkehr entstand 
schon damals das Heldenlied, eine treue Erinnerung an die großen Thaten 
deutscher Helden in der Zeit der Völkerwanderung; aber die Dichtung gestaltet 
in kühner Weise die Ereignisse um, und rückt zusammen, was in der Wirklich- 
keit um ganze Menschenalter auseinander liegt. So singt sie von Ermenerich, 
von Theoderich dem Großen (dem starken Dietrich von Berne) von seinem treuen 
Rittersmann Hildebrand; ferner vom Fall der Burgundenkönige, vom Weitherr- 
schenden Etzel, und vom Sigurd oder Sigsrit, der ursprünglich ein nordischer 
Frühlingsgott, jetzt ein jugendlicher Held ist, treu und kindlich, arglos und doch 
gewaltig wie keiner — das vollendete Abbild des deutschen Charakters. — 
§ 37. In _ den eroberten römischen Provinzen saßen die Germanen als 
die Herren. Sie hatten sich in den meisten Ländern ein Drittel, in einzelnen 
sogar zwei Drittel vom Grund und Boden abtreten lassen — aus jedem Mann 
also eines solchen erobernden Germanenheeres war gleichsam ein Gutsbesitzer 
und Edelmann _ geworden. So standen sie mitten in der alten, lateinisch redenden 
Bevölkerung dieser ehemals römischen Provinzen, mit der sie sich nicht ver- 
schmolzen und die sie als Welsche (Walchen) bezeichneten. Diese waren zwar 
in den furchtbaren Kriegen sehr zusammengeschmolzen, doch bildeten sie immer 
noch den Grundstock der ländlichen Bevölkerung und waren fast allein die Be- 
wohner der Städte. Sie hatten ihr römisches Recht behalten, während die 
Germanen sich untereinander nach ihrem Stammesrecht richteten. Im Ganzen 
waren die Germanen, nach den ersten, meist wilden und grausamen Einbrüchen, 
milde Herren. Hatten die Einwohner von ihrem Landbesitz viel aufgeben müssen, 
so war dagegen der furchtbare Steuerdruck weggefallen, der in den letzten 
Zeiten des Römerreichs auf den schon verarmten Unterthanen gelastet hatte. 
Im Ganzen waren auch den Welschen die Germanen Befreier und gaben ihnen 
eine erneuerte, frischere Lebensthätigkeit. Dennoch befreundeten sich beide Schich¬ 
ten der Bevölkerung, zumeist aus religiösen Gründen, nicht mit einander. Die 
Germanen waren zwar, als sie die römischen Provinzen eroberten, fast sämmt- 
lrch Christen, und nur die Franken und Angelsachsen bildeten eine Ausnahme. 
Aber das Christenthum war ihnen in der Form der arianischen Secte über-
	        
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