128 Das neue Deutsche Reich von 1871 bis zur Gegenwart.
2. Berlin, den 31. Dezember 1866. Seitdem Ich am 10. April 1857
Meinen Abschiedsgruß Meinen zu Hinterlassenden niederschrieb, hat das Schick-
sal mächtig in Mein Leben eingegriffen. Die Vorsehung bestimmte in einer
ungeahnten Weise über die letzten Lebensjahre Meines teuern Bruders und
berief Mich noch bei seinem Leben zu seinem Nachfolger. Als Gott den
vielgeprüften König und Bruder von seinem schweren Leiden gnädig erlöste,
mußte Ich den Thron der Väter besteigen. Gegen Meine Neigung schritt
Ich zur Krönung, in tiefster Demut, um Preußen mit seinen neuen In-
stitutionen die irdische Macht zu vergegenwärtigen, die zu dessen Heil fest
bestehen müssen. Diese Meine gewissenhafte Überzeugung hat Mich geleitet
und gestählt in den schweren Kämpfen, die Ich mit jenen neuen Institutionen
jahrelang zu bestehen hatte. Diese Kämpfe haben Mich tief erschüttert, weil
Ich standhalten mußte gegen ein wirres Andrängen gegen jene irdische Macht,
die Ich nicht aus den Händen geben durfte, wenn Preußens Geschichte nicht
aufgegeben werden sollte. Ich vergebe allen, die wissentlich und unwissentlich
sich Meinen auf Gewissensüberzeugung begründeten Absichten zum Wohle des
Vaterlandes entgegensetzten, um die Macht der Krone zu schmälern und die
Herzen der Preußen derselben zu entfremden. Vergessen mögen Meine Nach-
kommen es aber nicht, daß Zeiten möglich waren wie die von 1861 bis
1866! In dem Jahre, welches heute schließt, hat sich Gottes Gnade in einer
Art über Preußen ergossen, die für soviel Erduldetes reichlich entschädigt.
In Demut erkenne Ich diese göttliche Gnade, die Mich ausersehen hat, in
Meinem vorgerückten Alter eine Wendung der Verhältnisse herbeizuführen, die
zum Heil des engern und weitern Vaterlandes bestimmt zu sein scheint. Das
Werkzeug, so Großes zu erreichen, die Armee, steht unübertroffen in diesem
Augenblick vor der Welt. Der Geist, der sie beseelt, ist der Ausdruck der
Gesittung, die eine sorgliche Hand Meiner erhabenen Vorfahren der Nation
anerzogen hat. Die Armee finde in allen ihren Teilen in dieser ernsten
Scheidestunde des Jahres Meinen Herzensdank für die Hingebung und Auf-
Opferung, mit der sie Meinem Rufe folgte und vor Meinen Augen siegte —
ein Erlebnis, für das Ich Gott Meinen demütigen Dank stammelte. Aber
ganz Preußen finde hier Meinen königlichen Dank für die Gesinnung, die
es in diesem denkwürdigen Jahre an den Tag legte! Wo solche Vaterlands-
liebe sich zeigt, da ist der gesunde Sinn vorhanden, der Nationen groß macht,
und darum segnet sie Gott sichtlich. Meinen heißesten Dank finden alle hier,
die Mir halfen, durch schwere Zeiten zu dem Lichtpunkt dieses Jahres zu
gelangen! Möge Gottes Segen immer auf Preußen ruhen und Preußen sich
dieses Segens würdig zeigen! Möge Mein Sohn und seine Nachkommen
solches Volk und solche Armee um sich sehen und durch besonnenes, zeitge-
mäßes Fortschreiten das Wohl und Gedeihen beider sorglich fördern und
Preußen die Stellung sichern, die ihm von der Vorsehung sichtlich an-
gewiesen ist! Das walte Gott in Seiner Gnade!!! Mitternacht 66/67.
Wilhelm.
3. 31. Dezember 1871. 1870 bis 1871. Gott war mit uns! Ihm
sei Lob, Preis, Ehre, Dank! Als Ich am Schluß des Jahres 1866 mit
dankerfülltem Herzen Gottes Gnade dankend preisen durfte für so unerwartet
glorreiche Ereignisse, die sich zum Heile Preußens gestalteten und den Anfang