zu erkennen. Man befand sich in der Tat in der Nähe des Landes.
Wenige Stunden später, am 12. Oktober morgens 2 Uhr, sah der
Matrose Rodrigo von Triana auf der Pinta einen flachen, sandigen
Strand im Mondschein leuchten; denn man hatte sich dem Lande
5 von der Seite bereits bis auf zwei Seemeilen genähert.
Ein Kanonenschuß verkündete die glückliche Entdeckung den beiden
nachfolgenden Schiffen, und sowie es Tag ward, sahen sie eine anmutig
grüne Insel vor sich liegen. Die Überfahrt von den kanarischen Inseln
hatte 36 Tage gedauert. Entzückt und mit Freudentränen im Auge,
stimmte Columbus den Lobgesang Io ctemn laudamus an, und alle
seine Gefährten stimmten mit ein. Man umringte den noch vor kurzem
arg geschmähten Führer und brachte dem Helden seine Huldigung dar.
Die Befehlshaber der Schiffe landeten nun mit bewaffneten
Booten. Unter fliegenden Fahnen, welche außer dem grünen Lireuz
iS die Anfangsbuchstaben der katholischen Majestäten F. und J. zeigten,
stiegen sie ans Land und warfen sich nieder, um den Boden zu küssen.
Dieses erste Eiland, welches die Entdecker betraten, nannte Columbus
San Salvador und weihte es dadurch zu einem Erstlingsopfer dem
Heiland der Welt. Bei den Eingebornen hieß es Guanaham oder
so Guanahani.
3. Karl V.
Leopold Ranke. Fürsten und Völker von Süd-Europa. Bd. I2. Berlin 1837.
Wenn die alte Sage ihre Helden schildert, gedenkt sie zuweilen
auch solcher, die erst eine lange Jugend hindurch untätig zu Hause
sitzen, aber alsdann, nachdem sie sich einmal erhoben, nie wieder ruhen,
sondern in unermüdlicher Freudigkeit von Unternehmung zu Unter-
i nehmung fortgehen. Erst die gesammelte Kraft findet die Laufbahn,
die ihr angemessen ist.
Man wird Karl V. mit einer solchen Natur vergleichen können.
Bereits in seinem sechzehnten Jahre war er zur Regierung berufen;
doch fehlte viel, daß er in seiner Entwickelung dahin gewesen wäre,
io sie zu übernehmen. Lange war man versucht, einen Spottnamen,
den sein Vater gehabt, weil er seinen Räten allzuviel glaubte, auch
auf ihn zu übertragen. Sein Schild führte das Wort: „Noch nicht!"
Selbst während seine Heere Italien unterwarfen und wiederholte Siege
über die tapfersten Feinde davontrugen, hielt man ihn, der indes ruhig
is in Spanien saß, für unteilnehmend, schwach und abhängig. Man
hielt ihn so lange dafür, bis er im Jahre 1529, im dreißigsten seines
Lebens, in Italien erschien.