Kap. 73. § 298. Zustand der evang. Kirche. (Spener. A. H. Franke). 273 
der brandenburgische unter dem großen Kurfürsten Friedrich Wil¬ 
helm (gest. 1688), sowie auch der österreichische unter Leopold I hielten 
sich damals von französischer Unsitte entfernt. 
An der Religion in ihrem damaligen Zustande konnte die Sittlichkeit nicht 
die nötige Stütze finden. Viele katholische Regierungen fuhren fort, ihren 
protestantischen Unterthanen den Gottesdienst zu erschweren, und wer den 
Verlockungen zum Übertritt widerstand, mußte oft das Land verlassen. 
Selbst unter den Protestanten führte der Widerstreit der Konfessionen 
zu Verfolgungen, Amtsentsetzungen und Landesverweisungen (wie z. B. auch 
den trefflichen Kirchenliederdichter Paul Gerhard ein solches Los traf) 
und die Versuche zu Konfessionsvereinigungen hatten in der Regel nur 
größere Verbitterung zur Folge. 
(298.) Mas die protestantisch-evangelische Kirche im allgemeinen 
betrifft, so war in ihr damals ein toter Glaube herrschend geworden: sie 
hatte im Streite mit sich selbst die erste Liebe verlassen und das evange¬ 
lische Christentum schien in unfruchtbarem Vegriffswesen zu ersterben, als 
der Geist Les Glaubens und des Gebets neues Leben erzeugte und in 
Männern wie Spener, Franke, Zinzendorf u. a. für Deutschland, wie 
Wesley, Whitefield u. a. für England und Nordamerika kräftige Zeu¬ 
gen erweckte, welche — trotz aller individuellen Auswüchse — auf die evan¬ 
gelische Kirche selbst einen neubelebenden gesegneten Einfluß ausübten. 
Der wiedererwachende praktische Glaube führte zum Zusammentritt 
christlicher Gemeinschaften, denen neben dem eigenen Wachstum im Christen¬ 
tum auch die Verbreitung des Evangeliums unter den Heiden am 
Herzen lag. Nachdem schon 1647 England die erste Missionsgesell¬ 
schaft gestiftet hatte, bezeugte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts 
die dänisch-hallische Mission und die Mission der Brüderge¬ 
meinde, daß ein frischer Pfingsthauch den erstarrten Protestantismus zu 
beleben angefangen habe. 
Jacob Spener, geb. 1635 im Elsäßischen, Oberhofprediger in Dresden und zuletzt 
Probst in Berlin, wo er starb, Stifter der collegia pietatis, durch die er, wie durch 
seine ganze Prediger- und Katecheten-Thätigkeit, die evangelische Theologie von dem 
Wege der bloßen Verstandesspekulation auf den biblisch-praktischen Weg der Re¬ 
formatoren zurückzuführen und den Glauben durch Hervorhebung des urchristlichen 
Grundsatzes vom allgemeinen Priestertum zur Herzensangelegenheit eines jeden Christen 
zu machen suchte, wenn er auch in seinem heilsamen Gegensatz gegen den toten Glauben 
vieler Kirchenglieder, ohne es zu wollen, in gewissen Beziehungen der Kirche als 
solcher zu nahe trat und dadurch bei seinen Anhängern zu Einseitigkeiten Anlaß gab. 
August Hermann Kranke, geb. 1663, gest. 1727, war Speners begabter Nach¬ 
folger im Betrieb des biblisch-praktischen Christentums, die Seele der theologischen 
Fakultät der damals neugestifteten Universität Halle und Gründer des großen, auf 
weithin segensreich wirkenden hallischen Waisenhauses und der damit verbundenen 
Stiftungen, zu denen auch die Canstein'sche Bibelanstalt gehörte. Als er starb, 
wurden in den verschiedenen Abteilungen seiner deutschen Schule 2125 Kinder von 
136 Lehrern unterrichtet, in seinem Waisenhause 430 Waisen, mehrere hundert 
andere arme Kinder und 255 arme Studenten gespeist, in seinem Pädagogium 82 
Schüler und in allen seinen Anstalten 200 Lehrer und an 100 erwachsene helfende 
und dienende Personen gezählt. 
Nie. Ludwig Graf von Zinzendorf, geb. 1700, gest. 1760, war der Gründer der 
aus den mährischen und böhmischen Brüdern (§ 140) hervorgegangenen und in Herrnhut 
1722 errichteten „Erneuerten evangelischen Brüderunität", welche, an die augs- 
burgische Konfession sich anschließend, die Rechte einer bischöflichen Kirche erlangte: 
D ittmar, Umriß d. Weltgesch. 12. Aufl. II. 18
	        
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