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von Kleid und Miene ihrem Blicke darstellen: bald in der blendenden
Hülle des Winters, bald im lachenden, bunten Frühlingskleide, bald
von stürmenden Wolken umsaust, bald wieder von Regenstrichen gepeitscht
oder von Blitzen umzuckt, gestern von dicken Nebeln umwallt, heute
vom Glanze der Sonne verklärt — so wird das Land ihnen traut
und lieb.
Mit dieser Natur von Jugend auf verwachsen, durch sie tagtäglich
in Anspruch genommen, auf ihren Umgang fast allein hingewiesen,
ihr die Erzeugnisse zwar mit Mühe, bedenklicher Wagnis und Gefahr,
gleichwohl hinreichend, ja sogar in reichlichem Maße abgewinnend,
sollte da nicht der Bewohner der Alpen von lebendiger Liebe zur
Heimat erfüllt werden? Wenn seine Gewandtheit ihm in der Ferne
Behaglichkeit und Glück des Lebens erworben, kehrt er mit Reich⸗
tümern zurück und wird unmerklich von der Alpennatur dermaßen wieder
gefesselt, daß er fremde Bedürfnisse und fremde Weise alsbald ablegt
und sich der einfachen Art und den alten Gewohnheiten der Väter
wieder zuwendet. So begegnet man selbst in den unwirtlichsten Tälern
Graubündens Leuten, die sich dort aufs neue niedergelassen, nachdem
sie in den verschiedensten Weltgegenden ein Vermögen erworben hatten.
Nicht die Bekanntschaft mit weichlichen Genüssen, Sitten und Gewohn⸗
heiten, nicht die tausenderlei Bequemlichkeiten des großstädtischen Lebens
tonnten sie zurückhalten, in ihre rauhe Gebirgswelt zurückzukehren, die
sie auch in der Ferne wie mit Zaubergewalt gebannt hielt. Es wäre
eine irrige Ansicht, wollte man den Hauptgrund jener Erscheinung
in den freien staatlichen Einrichtungen ihres Vaterlandes suchen; denn
es wird dem Schweizer nicht allzu schwer, sich an fremde Staatsformen
zu gewöhnen; aber den heimischen Boden vergißt er nie, „das Alp⸗
horn hat mir solches angetan,“ singt schon das Volkslied. Und wir
finden dasselbe auch in Tirol, vorzugsweise bei den Bewohnern des
durch Andreas Hofer berühmt gewordenen Tales Passeier. Soweit
sie auch als Händler hin und her wandern, es fliegt ihnen kein neues
Bedürfnis an; mit den einfältigsten Augen von der Welt ziehen sie
an den Reichtümern dieser Erde vorüber, so sehr ist ihr sonst heiterer
Sinn von der Härte des Lebens in ihrem strengen Tal gefesselt.
Den alten Gewohnheiten wendet sich der Alpenbewohner wieder
zu. In der Abgeschlossenheit seines Tales, bei der Unbekanntschaft
mit der Außenwelt, deren veränderliche und abweichende Moden ihn
nicht verlocken können, ist er in der Großartigkeit seiner Naturumgebung