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Den Volkswillen verkörpert der Reichstag. Die 397 Abge¬
ordneten gehen hervor aus allgemeinen direkten Wahlen mit ge-
heimer Abstimmung: die Wahlen finden alle fünf (anfangs alle drei)
Jahre statt. Außer den Militärpersonen ist jeder mindestens fünf-
undzwanzigjährige Deutsche, der im Besitze der bürgerlichen Ehren-
rechte sich befindet und keine Armenunterstützung empfängt, wähl-
berechtigt. Der Reichstag kann selbst Gesetze dem Bundesrat vor-
schlagen oder die Vorlagen des Bundesrates annehmen oder
verwerfen. In letzterem Falle kann der Kaiser nach Beschluß der
verbündeten Regierungen, d. h. des Bundesrates, den Reichstag auf-
lösen und Neuwahlen anordnen. Reichsgesetze kommen nur zustande,
wenn die übereinstimmenden Beschlüsse des Reichstages und Bundes-
rates die Zustimmung und Unterschrift des Kaisers erhalten. Die
Reichsgesetze gehen den Landesgesetzen vor.
Die Reichsangehörigen haben das Recht, sich überall im Reichs-
gebiete niederzulassen, ein Geschäft zu betreiben und ein öffentliches
Amt zu bekleiden (Heimatrecht). Ganz Deutschland ist ein ein-
ziges Zoll- und Handelsgebiet, das von einer gemein-
samen Zollgrenze umgeben ist. Die Reichsausgaben für Heer, Flotte,
Reichsbeamte u. a. werden bestritten durch die Reichseinnahmen aus
Zoll- und Po st wesen sowie aus den dem Reiche überladenen
indirekten Verbrauchssteuern. Die Ein- und Ausgaben sind
jährlich im Reichshaushaltsetat vom Reichstag zu geneh-
migen. Genügen die Einnahmen nicht, so müssen bis zur Erschließung
neuer Quellen die hauptsächlich auf die direkten Steuern angewiesenen
Bundes st aaten Beiträge zahlen im Verhältnis ihrer Bevöl-
kerung. Die Reichsmarine und die ganze deutsche Landmacht
beruhen auf der allgemeinen Wehrpflicht und unterstehen dem Ober-
befehl des Kaisers, die bayerischen Truppen jedoch nur im Kriege.
Die Häfen von Kiel und Wilhelmshaven sind Reichskriegshäfen.
Alle Deutschen betrachteten sich von nun an unter dem neuen
schwarz-weiß-roten Banner als Bürger eines großen Vaterlandes,
und die Bewohner des einen Bundesstaates wurden in dem anderen
nicht mehr als „Ausländer" angesehen.
in. Zeitraum 1871 -1914.
(Die Zeit der beginnenden Weltpolitik.)
Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts bildet den Übergang zu
einer neuen Zeit. Die nationalen Bestrebungen sind zwar noch nicht
überall zur Ruhe gekommen, doch handelt es sich fortan mehr um