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164. Das goldene Vlies.
Hierauf begab sich Herkules auf den Berg Ota, bestieg den Scheiter¬
haufen, welchen ihm Jolaus hatte errichten helfen, und befahl seinem
Freunde Philoktet, welchem er seine Pfeile schenkte, das Holz an¬
zuzünden. Zeus aber verzehrte den Scheiterhaufen und alles, was
noch sterblich an dem Helden war, mit seinen Blitzen und nahm
ihn in einer Wolke gen Himmel auf. Das Unsterbliche war gerettet,
und Herkules lebte fortan auf dem Olymp; von dem Volke aber
wurde er als der größte der Halbgötter verehrt.
164. Das goldene Vlies. [II.]
Von H. Herzog.
Erzählungen aus der Weltgeschichte. 2. Ausl. Aarau 1874. B. I S. 40.
In der Stadt Orchomenos in Böotien herrschte einst ein König,
welcher zwei Kinder hatte, einen Sohn, der Phrixus, und eine
Tochter, die Helle hieß. Die Mutter dieser Kinder starb, und es
kam eine böse Stiefmutter, die ihnen nach dem Leben trachtete.
Um dem Tode zu entgehen, floh der kühne Phrixus mit seiner
Schwester Helle auf einem goldwolligen Widder über das Meer.
Als sie aber an die Meerenge kamen, die Asien und Europa trennt,
fiel Helle von dem Widder herab ins Meer, das von ihr den Namen
Hellespont, d. i. Meer der Helle erhielt. Den Phrixus trug der
Widder an die Küste des schwarzen Meeres, in das Land Kolchis.
Hier opferte er das goldwollige Schaf den Göttern, und das Fell
oder Vlies hing er an dem heiligen Haine des Kriegsgottes auf.
Diesen Schatz hätten die Griechen gern wieder gehabt; es fand
sich aber niemand, der die höchst gefahrvolle Unternehmung be¬
stehen wollte. Da forderte Pelias, der als König zu Jolkos in
Thessalien herrschte, seinen Neffen Jason dazu auf, und fand ihn
willig. Jason lud die berühmtesten Helden Griechenlands dazu ein.
Ein großes Schiff, das nach seinem Erbauer Argos den Namen
Argo erhielt und dem ganzen Unternehmen die Benennung Argo-
nautenzug verliehen hat, trug die Helden über das Meer. Nach
mancherlei Abenteuern gelangten die Argonauten nach Kolchis. Hier
herrschte der König Äetes, welcher im Besitze des goldenen
Vlieses war. Zu diesem begab sich Jason und bat ihn, er möge
den Griechen das goldene Vlies geben. Allein da dem König ge-
weissagt worden war, er werde nur so lange die Krone tragen, als
er im Besitze des Vlieses sei, so erwiderte er dem Jason auf sein
Ansuchen: „Ich will dir deine Bitte gewähren, wenn du zuvor zwei
feuerschnaubende Stiere mit ehernen Hufen vor einen Pflug gespannt,
vier Morgen Land umgeackert und einen Helm Drachenzähne gesäet
hast. Aus dieser Saat wird eine Schar Riesen hervorgehen, und die
mußt du erlegen!“ Das waren harte Bedingungen, und Jason geriet
in nicht geringe Verlegenheit. Doch Medea, die Tochter des Königs,
die den schönen und tapferen Jüngling lieb gewonnen, half ihm aus