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Vorlande verschwinden, schmelzen auf die Hälfte ihres Umfanges
zusammen. Kleine Landesteile, die noch soeben mit dem Festlande
zusammenhingen, lösen sich und werden zu Inseln. Die Hafen¬
dämme der Städte, vorher riesengroß, schrumpfen fast zu nichts zu¬
sammen. Alle Gräben, Kanäle, alle Meeres- und Flußarme füllen
sich bis an den Rand der Deiche. Unser Schiss hebt sich mächtig in die
Höhe und scheint als gebietender Riese durch die Gegend zu fahren. Wir
schauen über die Dämme hinweg ins Innere des tiefen und niedrigen
Landes. Seichte Gräben werden selbst für große Fahrzeuge schiffbar.
Alle Schiffe, welche die Ebbe auf den Sand setzte, und die, schief
auf die Seite geneigt, traurig dalagen, richten sich gemach wieder
empor und erholen sich allmählich, wie arme Kranke, die man der
frischen Luft zurückgab. Endlich lösen sie sich völlig aus dem
klebrigen Boden und schweben beweglich und schwankend empor auf
der klaren Flut, wie flüchtende Enten, die vom unbequemen Fest¬
lande auf den glatten Teich sich gerettet. Nun wird in allen Häfen
und an allen Ufern gerüstet. Schiffe aller Größen und Arten
spannen die Segel auf, lösen sich vom Strande und tragen ihre
Reisenden und ihre Waren von Ufer zu Ufer. Auch die großen
Seefahrer, die vor den Mündungen der Ströme den Augenblick der
Fluthöhe erwarten, ziehen landeinwärts und schwimmen mit ge¬
bauschten Segeln und vollem Wasser in die sicheren Tore des Fest¬
landes ein.
3. Die Ebbe gewährt ein anziehenderes Bild als die Flut. Da
liegt das arme Schiff gestrandet am Ufer und erweckt unser Mitleid.
Da kriecht das Bettelvolk der Küstenstädte, die zerlumpten Kinder
und die armen Muschelsammler und Krabbenfänger, hervor und
schleicht an den Bollwerken der Häfen herum, an denen seine Ernte
gereift ist, nämlich die Muscheln, die das Meer hier säete und
pflanzte. Mit der Flut ist nur der Reiche und Glückliche im Bunde,
der seine stolzen Schiffe auf ebener Bahn entsendet. Die Ebbe ent¬
hüllt aber auch eine Menge Geheimnisse der Tiefe, welche die Flut
mit dem einförmigen Teppich des Wassers überzieht. Da kommen
die hübschen Muscheln und die Ungetüme des Meeres zu Tage, die
sich auf dem Grunde versäumten. Da sieht man die versandeten
Wracks und Balken der ehemals gestrandeten Schiffe; da zeigen sich
im Sonnenscheine die Korallen und Kräuter, die in der dunklen
Tiefe des Meeres wachsen. Selbst in der Luft herrscht zur Zeit
der Ebbe regeres Leben; denn die Vögel machen sich heran, um der
Ebbe zu folgen. Auch sie finden ihre Tafel auf den Sandbänken
reichlich gedeckt. Die Strandläufer, die Möwen, selbst die Schnepfen
und Störche flattern oder wandeln am Strome oder auf den ent¬
blößten Lagunen (Untiefen), um auf das Seegewürm Jagd zu machen
Während der Flutzeit, die ihnen einen Teil ihrer Nahrung entzieht,
fitzen sie dann ruhig am Lande, auf den Wiesen hinter den Deichen,
um der Verdauung zu Pflegen. Nach Kohl.
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