106
Du bist verwundert? Besinne dich doch! Heute beginnen die
Sommerferien, und alle die Hunderte, die du hier siehst, wollen die
goldne Freiheit benutzen, um sich in andern Gegenden zu erholen. Kannst
du dir nun ihre Freude und Ungeduld erklären?
Zu den erwachsenen Sommerfrischlern^ haben sich neuerdings auch
Kinder gesellt. Die meisten Städte, sowie auch größere Landgemeinden
schicken alljährlich eine Anzahl schwächlicher und würdiger Schüler ins
Gebirge und ins Vogtland. Sie stehen unter der Obhut eines Lehrers und
sollen sich wie jene Erwachsenen in der reinen, gesunden Waldluft kräftigen.
Ferienkolonien nennt man diese Einrichtungen. In Bärenwalde, Ober-
crinitz, Herlagrün und andern Orten sind solche Kolonien schon seit
Jahren ständige Gäste.
Schnüre dein Bündel und wandere mit mir nach Obercrinitz! Im
Malzschen Gasthofe daselbst hat die Planitzer Kolonie schon seit drei
Jahren ihre Herberge. Vom nahen Kirchturme schlägt es sechs Uhr. Wir
treten in den Gasthof ein. Trotz der frühen Stunde herrscht hier schon
reges Leben. Lauter Glockenschall hat soeben die Kolonisten aus ihrem
süßen Schlummer geweckt. Sie sind nun emsig beschäftigt, sich zu waschen
und anzukleiden. Jeder ordnet dann noch seine Lagerstätte. Nun ruft
ein neues Zeichen zum ersten Frühstück. Wir folgen den Kolonisten
in den gemeinsamen Speiseraum. Auf langen Tafeln ist bereits für
alle der Tisch gedeckt. Jeder nimmt seinen besümmten Platz ein, und
dann lassen sich alle den Morgenimbiß, bestehend aus Brötchen und Milch,
wohlschmecken. Nach beendigter Mahlzeit dürfen sich die Kolonisten im
Garten tummeln. Die Knaben belustigen sich an den Turngeräten, wäh¬
rend die Mädchen spielen und singen. Einige von den Kindern begeben
sich wieder nach den Schlafräumen. Sie haben für den heutigen Tag
die Aufgabe, dort alles zu säubern und zu ordnen. Wir gehen mit ihnen.
Zuerst betreten wir den geräumigen Tanzsaal. In schön geordneter Reihe
sind hier zweiundzwanzig Lagerstätten auf dem Fußboden eingerichtet.
Sie bestehen aus einem Strohsack, Kopfkissen, Bettuch und einer wollenen
Decke zum Zudecken. Nebenan, in einer großen Stube, befinden sich
einundzwanzig ebensolche Ruhebetten für die Knaben. Allenthalben herrscht
peinlichste Sauberkeit. Eben treten auch die andern Kinder herein. Sie
vollenden ihren Anzug/ denn es soll ein Spaziergang unternommen werden.
Auf dem Turnplätze wird angetreten. Der Lehrer mustert noch einmal
seine Schützlinge, daß nicht etwa einer durch zerrissene oder beschmutzte
Kleider der Kolonie zur Schande gereiche. Dann geht's mit Sang und
Klang zum Tore hinaus. Die letzten beiden tragen einen schweren Korb.
Darin ist das zweite Frühstück enthalten/ denn vor Mittag will die
Schar nicht zurückkehren. Bald ist der Wald erreicht. Hier zerstreuen
sich die Kinder, um sich Beeren zu ihrem Brote zu suchen. Ein gellender
Pfiff ruft sie nach kurzer Zeit wieder zusammen. Die Lippen zeigen,
daß ihre Mühe nicht vergeblich war. Nun wird das Frühstück verteilt.
Allen mundet es vortrefflich. Dabei schallt der Wald wider von lustigem