Full text: Lebensbilder aus Sage und Geschichte (Vorstufe)

Eheleben. 51 
zierlichen Buchstaben der griechischen Schrift einen Lobgesang auf Athene 
abgeschrieben hatte. 
Solche ernste Arbeit brachte sie der großen, klugen Stadtgöttin, der 
Göttin der Weisheit und der kunstvollen Arbeit, näher, und als sie elf Jahre 
alt war, erlebte sie die höchste Ehre, die ein so kleines Mädchen in Athen 
erleben konnte: sie wurde mit drei andern zum 
Dienste der Athene gewählt, und am Geburtstage 
der Göttin mußte sie auf die Burg kommen und 
dort unter Leitung der Priesterin das große Ge- 
wand anfangen, das man der Göttin alle vier 
Jahre für ihr Holzbild auf der Burg schenkte und 
an dem fast alle Bürgerinnen Athens nacheinander 
webten. Angefangen aber wurde es von Kinder- 
Händen, und uusre Kleine war sehr stolz, als ihre 
geschickten Fingerchen das heilige Werk begannen. 
Als es dann nach vier Jahren fertig war, durfte 
das junge Mädchen zum ersten Male öffentlich 
mit im Festzuge gehen, der das Gewand auf die 
Burg brachte. Zu zweien, in weißen Kleidern, 
den Blick schüchtern zur Erde gesenkt, so schritt die Mädchenschar feierlich da¬ 
hin, und dahinter kamen die jungen Männer auf feurigen Rossen. 
B. Eheleben. Gleich nach diesem Festtage kam eine große Wendling in 
ihr Leben: eines Morgens wurde sie in die große Halle gerufen und fand 
dort Mutter, Vormund und den jungen Sohn ihres Vormundes, mit dem 
sie wohl früher einmal gespielt hatte, der dann aber lange ans Reisen ge- 
wesen war, und der Vormund sagte ihr, er habe mit Zustimmung der Mutter 
sie zur Gattin seines Sohnes bestimmt und im nächsten Heiratsmonat 
(unferm Januar) solle die Hochzeit sein. Wohl bebte sie leise vor dem 
fremden Manne, der nun ihr Herr fein sollte; aber sie widersprach nicht, 
' sie grübelte nicht. Die Mutter wollte es, die Götter wollten es, und die 
meinten es gut, und der Vetter war freundlich und gütig. Während nun 
die Mutter alles zur Hochzeit rüstete, nahm sie still ihre Lieblingspuppe, 
; ihren schönsten Ball und brachte ihn auf den Altar der Artemis, die Jahre 
des Spiels waren vorüber. — Am Hochzeitstage führte man dann die Braut 
hinauf in den Tempel der Athene, die Priesterin brachte ein Opfer und rief 
die Göttin an um Segen für die Braut. Am Abend kam der Bräutigam 
mit Verwandten und Freunden, und in der großen Halle gab es ein Fest, 
mahl. Auf der einen Seite speisten die Männer, auf der andern die Frauen, 
in deren Mitte die verschleierte Braut. Danach führte man die Braut vor 
1 den Altar der Hestia, schnitt ihr das Haar ab und legte es als Opfer auf 
den Altar, und ihre Freundinnen fangen ein wehmütiges Lied vom Tode 
der Jugend. Dann bestieg sie einen mit Maultieren bespannten Wagen, 
4* 
Stickerin. Griechisches Vasenbild.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.