Kaiser Wilhelm. 217
schickte, schließt mit den bescheidenen Worten: „Welch eine Wendung durch
Gottes Fügung!" Er empfing den Gefangenen mit ritterlicher Höfllichkeit
und ließ ihn auf das schöne Schloß Wilhelmshöhe bei Cassel bringen, wo
er bis zum Ende des Krieges blieb. In Berlin aber sangen die Volks¬
massen unter dem Fenster der Königin Augusta: „Nun danket alle Gott!"
Die deutschen Heere zogen jetzt weiter und belagerten Paris, und der
greise König hat selbst noch den ganzen strengen Winter hindurch die Be¬
lagerung mitgemacht; er wohnte im alten Königsschloß zu Versailles, und
täglich ritt er umher, um tapferen Kämpfern zu danken und Verwundete zu
besuchen. Die ganze Zeit aber sammelten die deutschen Frauen, unter
Führung der Königin Augusta, Liebesgaben für die Krieger im Felde,
pflegten Kranke und Verwundete und nähten Verbandzeug, und die Kinder
zupften Charpie. Sie hatten nämlich jetzt viel Zeit: so oft eine Sieges¬
nachricht kam, wurde die Schule geschlossen, und die Siegesnachrichten kamen
immerfort. Endlich mußten die Franzosen nachgeben, und am 1. März 1871
erlebte es König Wilhelm noch einmal, daß deutsche Truppen als Sieger in
Paris einzogen. So war auch dieser Krieg glücklich beendet; im Frieden
mußte Frankreich Elsaß und Lothringen abtreten, zwei alte deutsche Länder,
deren wichtigste Stadt, das „wunderschöne" Straßburg, vor fast zweihundert
Jahren mitten im Frieden von Ludwig XIV. geraubt worden war. König
Wilhelm aber zog in das jubelnde Berlin ein. Die „Linden" entlang, die mit
678 eroberten französischen Kanonen geschmückt waren, vorbei am Denkmal
des Alten Fritz und seiner tapferen Generäle, ging der Zug zum Lustgarten,
wo heute Wilhelm I. das Denkmal seines Vaters enthüllte. Dort sprach er
zu den Versammelten das schlichte Wort: „Wenn der König uns heute
sehen könnte, so würde er mit seinem Volke und mit seinem Heere zu¬
frieden sein."
0. Kaiser Wilhelm. 1. Die Kaiser-Proklamation.
Durch sti'ie Luft ein Brausen zieht
Und beugt die knospenden Reiser.
Im Winde tönt ein nltes Lied,
Das Lied vom deutschen Kaiser. (Geibel).
Noch eine köstliche Frucht dieses Krieges war gereift auf Frankreichs
Schlachtfeldern: ein neues deutsches Kaisertum war entstanden! Seit dem
Aussterben der Hohenstaufen hatte die Sehnsucht des deutschen Volkes nach
einem starken, tapferen Kaiser nicht aufgehört; aber Barbarossa schlief noch
immer! Seit 1806 richteten sich die Hoffnungen aller Deutschen auf Preußen,
dieses sollte die neue Einheit gründen, und nachdem es Österreich 1866 besiegt
hotte, da war die Zeit reif. Als nun Frankreich den Krieg erklärte, da
hatte es plötzlich nicht nur mit Preußen, nicht nur mit Norddeutschlond zu
kämpfen; auch Bayern, Württemberg, Boden und Hessen schlossen sich an
und stellten sich unter die Führung des Preußenkönigs, und sie haben tapfer
mitgekämpft, Nord- und Süddeutfchland nebeneinander So schlang sich auf