Odysseus bei den Kyklopen.
35
schwer wie ein Mastbaum. Davon hieb er sich einen Pfahl ab, wie ihn ein
Mann gut mit zwei Händen umspannen konnte. Den schabten ihm die
Gefährten ganz glatt und spitzten ihn zu, und Odysseus machte Feuer an und
ließ die Spitze verkohlen, daß sie ganz scharf und trocken wurde. Dann
versteckte er sie, und die Griechen zwangen sich, etwas zu essen und zu trinken.
Endlich kam der Riese mit der Herde zurück, und weil er in Gedanken war,
trieb er alle Tiere herein, auch die Böcke, und sperrte die Höhle zu. Eilig
besorgte er nun seine Geschäfte mit seinen großen täppischen Händen, dann
packte er wieder zwei Gefährten des Odysseus und fraß sie. Da aber trat
Odysseus vor mit einem hölzernen Becher, aus dem köstlicher Weinduft stieg.
„Nimm und trink," sprach er, „es ist ein köstlicher Wein, den wir aus der
Ferne mitgebracht haben, und Wein schmeckt gut auf Menschenfleisch!" -
Gierig trank der Riese und war entzückt. „Schenk mir noch einmal ein," bat
er, „und dann sage mir auch, wie du heißest; denn dir will ich ein Gastgeschenk
geben für solche Freude!" Eilig füllte Odysseus ihm den Becher zum zweiten
und zum dritten Male, und dabei sagte er: „Mein Name ist Niemand!
Nun vergiß auch das Gastgeschenk nicht!" — „Gut", sagte der Riese, „den
Niemand will ich zuletzt von euch allen verspeisen, das sei sein GastgeschenkI"
Damit leerte der dumme Riese den Becher mit dem starken Weine zum vier¬
ten Male, und alsbald fiel er ganz berauscht auf die Erde und schlief so fest
wie noch nie. Schnell ließ sich Odysseus den Knüttel reichen, hielt ihn ins
Feuer, daß die Spitze glühend wurde, und bohrte sie von oben in das
Auge des Riesen, das so groß war wie ein kleines Wagenrad, und zwei
Gefährten drehten noch den Pfahl rundum, daß das ganze Auge zuckend ver¬
brannte. Wild sprang der Riese empor; aber er konnte seine Feinde nicht
finden, denn er sah ja nichts mehr. Da erhob er ein furchtbares Gebrüll,
und die andern Kyklopen eilten neugierig herbei. Aber sie konnten den Block
nicht abrücken; so riefen sie von draußen Polyphem zu, wer ihm etwas tue,
wer ihn beraube oder ihn würge. „Niemand beraubt mich!" schrie der
von innen tobend, „Niemand tut mir Gewalt an!" — „Wenn dir niemand
etwas tut", schrien die anderen, „so lege dich fchtafen!" und damit trollten
sie sich davon. Polyphem aber tobte weiter bis zum Morgen. Dann schob
er den Felsblock etwas zurück und ließ die Tiere heraus; doch setzte er sich
in den Eingang und betastete sorgfältig den Rücken der Tiere, ob sich nicht
etwa ein Mensch mit ihnen hinausdrängte. Aber Odysseus war wieder klüger.
Er band je drei Schafe zusammen, und unter das mittelste und stärkste band
er einen seiner sechs noch übrigen Genossen. Für sich aber wählte er den größten
und stärksten Widder der Herde, hängte sich unter ihn und krallte sich in
seiner Wolle fest. Da das Tier so schwer zu tragen hatte, kam es als
letztes an den Ausgang. Der dumme Riese glaubte, es sei traurig über das
Unglück seines Herrn, streichelte es und sprach mit ihm, merkte aber nicht,
was das Tier zu tragen hatte. Dann schob der Riese sorgfältig den Block
3*