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So mußte er denn allein, tiefes Weh im Herzen, auf die
Oberwelt zurückkehren. Er suchte seine Heimat auf und lebte
dort einsam, die Gesellschaft der Menschen fliehend, noch
drei kummervolle Jahre. In der Stille des Waldes sang er
die lieblichsten und wehmütigsten Lieder, und dann kamen
die Tiere der Wildnis herbei, die Vöglein flogen zu ihm hin,
und selbst die Bäume rückten näher heran; denn alle wollten
den Zaubertönen des Sängers lauschen.
Endlich aber stand sein Herz still, und sein Mund ver¬
stummte auf ewig. Den Leichnam bestatteten die Tiere des
Waldes. Die Seele aber schwebte hinab ins Totenreich. Hier
fand der treue Gatte sein geliebtes Weib wieder, und nun
weilten sie beide auf ewig ungetrennt in den wonnigen Ge¬
filden, wohin die guten, schuldlosen Menschen nach dem Tode
kommen. Gotthold Klee.
54. Schneewittchen.
1.
Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen
wie Federn vom Himmel herab, da faß eine Königin an einem
Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und
nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte,
stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen
Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so
schön aussah, dachte sie bei sich: „Hätt' ich ein Kind so weiß
wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem
Rahmen!" Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß
wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz
und ward darum das Schneewittchen (Schneeweißchen) genannt.
Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.
Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin.
Es war eine schöne Frau; aber sie war stolz und übermütig und
konnte nicht leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte über¬
troffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel: wenn
sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?"