70 16. Vergessen und Vergeben )c. 17. Die Jugendjahre König Wilhelms I.
16. Vergeben und Vergessen, oder: Die geraubte Blume.
5Dic schöne pfaueninsel, auf welcher Friedrich Wilhelm III. viele sel¬
tene Thiere »nd pflanze» unterhalten und pflegen ließ, war zu seiner Zeit
ein beliebter Ecsuchsort für die Ecwohncr von Potsdam und Ecrlin, denen
wie jedem Fremden der Zutritt zwei Mal in der Woche gestattet war.
Einst hatte die Raiserin von Rußland ihrem hochverehrten Vater eine
wunderschöne Llnme geschickt. Sie war von angenehmem Dufte und ent¬
faltete unter der Jand des geschickten Hofgärrncrs eine seltene Farbenpracht.
Der Rönig hatte seine Freude an dieser seltenen Elumc, betrachtete sie oft
in seiner stillen Gemüthlichkeit und nannte sic nach seiner geliebten Tochter.
So oft er in dieser Zeit nach der pfaiicninscl kam, wo er gern weilte, pflegte
er gleich beim ersten Schritt an's Land zu frage»: „Iv ic geh I's m ei»er li eben
Charlotte?" Man denke daher den Schrecken und die Angst des besorgten
Pflegers, als er einst an einem Tage des zahlreichsten Ersuch» in das Gewächs¬
haus tritt und die dcni Rönigc so werthe Elume vermißt. Sic war abgepflückt.
von Unruhe hin «nd her getrieben, den Thäter zu entdecken, stellt er
sich an den Play der Ucberfährc. Nicht lange, so nähert sich ein junger,
wohlgeklcidetcr Mann mir der Elumc in seinem Rnopflochc. Leiter »nd
unbefangen, als wäre nichts lleblcs geschehen, schreitet er einher. Zur
Rede gestellt über de» von ibm begangenen Raub, entschuldigt er sich mit
seiner Unwissenheit und bedauert und beklagt die von ihm leichtsinnig ver¬
übte That. Der verantwortliche Hofgärtncr aber führt den bestürzten
jungen Ulan» in seine Wohnung und läßt den ganze» Thatbestand aufzeich¬
nen und von Zeugen unterschreibe» zu seiner Rechtfertigung vor dem Rönige.
Als dieser bald nachher zur pfancninscl kam und wie gewöhnlich
fragte: „was macht meine liebe Charlotte?" »nd der Gärtner unter Thrä¬
nen den Verlust meldete und de» Hergang erzählte, umwölkten sich zwar
des Rönigs Züge; er blieb aber doch ruhig und gelassen und bemerkte nur,
wie unrecht cs sei, ihm auch seine kleinen Freuden z» verderben. Dem
Volke war aber nach wie vor der Zutritt ans der pfaiicninscl erlaubt, wie
sehr der gekränkte Eeamke das verbot auch empfehlen mochte. ,,was
können denn die Anderen dafür," cntzcgnetc der Rönig, „wenn unter
Tausenden ein Ungezogener ist, der die verstattete Freiheit mißbraucht?
woz» denn diese Schönheiten, namentlich die schnell verblühenden Eliimcn,
wenn außer mir Niemand seine Freude daran hat? Ich kan» nur selten hier
sein." Als aber der Gärtner den Namen des Thäters nennen wollte, siel der
Rönig schnell abwehrend ein: „Nei n, ncjn, jch will dcn Nam cn garnicht
w jsscn; der könnte mir wieder einfalle», wen» der Mann spä kcr
einmal Etwas zu bitten haben sollte, vergessen, vergeben!"
17. Die Justendsahre König Wilhclm's I.
Die Jugendjahre des Königs fallen wie die seines verstorbenen
Bruders in die Zeit der schwersten Heimsuchung unseres geliebten Va¬
terlandes. Er wurde am 22. März 1797 zu Berlin geboren und war
her zweite Sohn des Königs Friedrich Wilhelm III.