75
Spessarte vor sich gehen, daher habe ich den Wein dorthin bringen
lassen. Ich weiß aber hier bei einer Linde einen frischen Quell,
dort mögt ihr euren Durst stillen." Siegfried war dazu bereit, und
sogleich brachen alle Jäger auf. Da sprach der treulose Hagen
weiter: „Ich habe immer gehört, daß niemand imstande ist, Sieg¬
fried im Laufe zu folgen, so schnell soll er sein. Könnten wir doch
das einmal sehen!" „Ihr möget das mit mir versuchen," antwortete
der Held; „ich will mit meinen Kleidern, Waffen und meinem Jagdzeuge
laufen, ihr aber könnt es ledig thun." Da liefen die drei, Günther
Hagen und Siegfried ab; aber so schnell die beiden andern auch
waren, Siegfried gelangte zuerst zur Stelle. So groß sein Durst
nun auch war, er trank doch nicht eher, als bis Günther heran¬
gekommen war und getrunken hatte. Da erst legte er seine Waffen
beiseite und bückte sich über den Quell. Diesen Augenblick hatte sich
Hagen zur Mordthat ersehen. Schnell entfernte er Siegfrieds Bogen
und Schwert, ergriff den Speer, spähete nach dem Zeichen auf dem
Gewände und stieß die Spitze hinein, daß ein roter Blutstrahl aus
der Wunde hervorschoß; darauf floh er eilig davon. So war er
nie vor einem Manne gelaufen, wie vor dem todeswunden Helden.
Als dieser zur Besinnung kam, sprang er auf und suchte nach seinen
Waffen, während die Speerstange aus seiner Achsel emporragte.
Als er aber nicht fand, was er suchte, ergriff er seinen Schild,
rannte hinter dem Fliehenden her, erreichte ihn und hieb so gewaltig
auf den Mörder ein, daß der Wald von den Schlägen erscholl, und
das edle Gestein von dem Schilde zur Erde siel. Hagen strauchelte
unter solchen Schlägen, und ihm wäre die Stunde des Todes ge¬
kommen, hätte der Wunde ein Schwert gehabt.
Aber nun schwand diesem die Straft; seine Farbe verblich, er
fiel in die Blumen, und das Blut rann wie ein Strom aus der
Wunde. Da rief er: „Wehe, ihr bösen Feiglinge, übel habt ihr
an euren Freunden gehandelt, eure Schande wird euch von allen
guten Rittern trennen, eure Kinder werden noch an ihr zu tragen
haben. Mich dauert nichts so sehr auf Erden, als Kriemhilde, mein
Weib. Wollt ihr mir, o König, auf dieser Erde noch irgend eine
Treue erzeigen, so laßt sie euch empfohlen sein; denn sie ist ja eure
Schwester." Er rang nicht mehr lange, denn die Waffe des Todes
schnitt ihm allzu sehr in das Leben. So mußte der edle, tapfere