Full text: Alte Geschichte für die Anfangsstufe des historischen Unterrichts

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selbst jedoch ängstigten andere, ungünstige Zeichen. Deshalb schickte 
er seine Söhne Sextus und Ar uns zum Orakel nach Delphi, um 
sich dort Rats zu holen. Diese nahmen den Junius Brutus mit. 
einen Schwestersohn des Tarquinius. der sich, um dem Argwohn und 
den Nachstellungen des gegen alle Vornehmen mißtrauischen Königs 
zu entgehen, blödsinnig gestellt hatte. Als sie das Orakel vernommen 
hatten, fragten sie den Gott noch, wer von ihnen der Erste in Rom 
sein würde. Da erhielten sie die Antwort: „Derjenige, der am 
ersten die Mutter küßt." Die Königssöhne losten, wer dies zuerst 
tun solle; Brutus aber tat. als fiele er durch Zufall, und küßte so 
die Erde, als die allen gemeinsame Mutter. Nicht lange, nachdem 
sie heimgekehrt waren, belagerte der König Ardea. eine Stadt der 
Rütuler. In der Langenweile des Lagers stritten die Söhne des 
Königs einst mit ihrem Verwandten, dem CollaNnus, wer die 
beste Frau habe. Sie beschlossen, sofort zur Abendzeit ihre Frauen 
zu überraschen und zu sehen, was sie trieben. Da fanden die 
Tarquinier die ihrigen in Rom bei Festmahl und Putz, ßucretia 
aber, die Gemahlin des Collatinus, saß in ihrer Wohnung im nahen 
Collatia im Kreise ihrer Mägde und spann. Ihr wurde der Preis 
nicht allein der Tugend, sondern auch der Schönheit zu teil. Das 
Herz des Sextus Tarquinius aber, der sie so gesehen hatte, war von 
frevelhafter ßiebe zu ihr entbrannt, und kurze Zeit nachher eilte er 
bei Nacht in das Haus des Verwandten, wo ihn ßucretia als Gast- 
freund arglos aufnahm; er aber beleidigte sie durch schändliche Ge- 
walttat. Darauf ließ sie ihren Gemahl, den Collatinus, und ihren 
Vater, den ßucretius, bitten, sie möchten jeder mit einem vertrauten 
Freunde zu ihr eilen, denn Schreckliches sei geschehen. Collatinus 
und ßucretius kamen, mit ihnen ihre Freunde Valerius und Brutus: 
sie fanden die ßucretia in Trauergewändern in ihrem Gemach. Unter 
Tränen erzählte sie ihnen die Beschimpfung, die sie erfahren 
hatte — dann zog sie einen Dolch hervor und tötete sich, weil eine 
edle Römerin ohne die Ehre nicht zu leben vermöge. Als alle noch 
entsetzt standen, hob Brutus den blutigen Dolch auf, und auf ein- 
mal die Maske des Wahnsinns abwerfend, forderte er in kräftigen 
Worten die Männer zur Rache und zur Befreiung vom Joche der 
Tarquinier auf. Sie trugen den blutigen ßeichnam auf den Markt 
von Collatia; von Brutus geführt, strömte die erregte Menge nach 
Rom und rief auch hier das Volk zur Empörung auf. Sofort
	        
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