44 Lebensbilder aus der vaterländischen Geschichte 
seinen schrecklichen Gang. Furchtbar griffen die Leiden des Sohnes dem 
greisen Vater ans herz. Man sah es an dem tieftraurigen, sorgenvollen 
Blick, mit dem er aus seinem Eckfenster unter den Linden die unzählbare 
Menge grüßte, wenn die Wachtparade vorüberzog. In den ersten März- 
tagen des Jahres 1888 warf Krankheit den Kaiser selber aufs Lager. Jost 
bis zuletzt suchte er der Schwäche und Mattigkeit Herr zu werden. So 
äußerte er zu seiner Umgebung.- „Ich habe keine Zeit, müde zu sein." 
und auf Bismarcks Bitte, seinen Anfangsbuchstaben unter das Aktenstück 
zu setzen, das den Kanzler ermächtigte, den Reichstag zu schließen, setzte 
er noch seinen vollen Namen. Hm Morgen des 9. März entschlief der 
Kaiser,- in der Fülle der Jahre und ohne Todeskampf endete das lange, 
arbeitsvolle Leben. Nur mühsam erwehrte sich Sürst Bismarck der Tränen, 
als er dem Reichstage Kunde gab von dem, was alle deutschen herzen er- 
zittern ließ. Im Berliner Dome, der ein Trauergewand von hehrer, düsterer 
Feierlichkeit trug, fand die Beisetzung des großen Toten statt, und dann 
ging der stille Zug die schneebedeckten Linden entlang hinaus zum Mausoleum 
in Charlottenburg. Vom Brandenburger Tore aber leuchtete als Scheide- 
grüß der Stadt Berlin an ihren ersten Kaiser die Inschrift: 
Vale senex iinperator. 
Friedrich III. § 12. Wilhelm II. Nur einen kurzen Frühling hat Kaiser Friedrich 
regiert. Mit frommem Duldermute, mit einer Heldenkraft, die allen Glanz 
seiner Schlachtensiege überstrahlte, ertrug er die Leiden der furchtbaren 
Krankheit, „ohne zu klagen". In dem neuen Palaste zu Potsdam, in dem 
er im Jahre 1831 an dem glückverheißenden Tage der Schlacht bei Leipzig 
geboren war, neigte er sein Haupt zum letzten Schlummer und hinter¬ 
ließ das Reich seinem ältesten Sohne Wilhelm. 
Wilhelms!I. Hrn 27. Januar 1859 zu Berlin geboren, hatte Wilhelm II. als Knabe 
5 9" die große Zeit Preußens miterlebt und seinen Vater und Großvater drei- 
mal als sieggekrönte Feldherren aus dem Kriege heimkehren sehen. Die 
preußischen Helden und Siege wurden für ihn eine Quelle der Kraft und 
Erhebung. Sein für alles Große und Schöne empfängliches Gemüt er¬ 
faßte das deutsche Leben und Empfinden aller Zeiten, in freudiger Hin¬ 
gebung versenkte sich der Prinz in die deutsche Dichtung. Daneben wurden 
die körperlichen Übungen aufs eifrigste betrieben, vor allem Schießen, 
Schwimmen und Reiten. In einem selbstverfaßten Glaubensbekenntnis 
gelobte der Prinz bei seiner Einsegnung, das Reich der Liebe, Wahrheit 
und Gerechtigkeit,der Treue und des Friedens nach allen Kräften zu fördern, 
alles Unlautere zu meiden, alle segensreichen Einrichtungen des Gemein- 
wesens, besonders der christlichen Kirche, zu fördern. Er wisse, daß schwere 
Hufgaben feiner warten,- aber sie sollten seinen Mut nicht einschüchtern, 
sondern stählen. Unmittelbar nach der Einsegnung trat er in die Gber- 
sekunda des Staatsg^mnasiums zu Kassel ein. Damit wurden die Schranken
	        
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