fullscreen: Deutsches Lesebuch für Mittelschulen

114. Eroberung Jerusalems durch die Kreuzzfahrer. 
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gegeben, sich nach solcher Anstrengung 
und in der nahen Aussicht auf größere 
Thaten durch ruhigen Schlaf zu 
stärken. 
Auch erneute sich mit der Morgen¬ 
röthe der Kampf heftiger noch, als am 
vergangenen Tage; denn die Christen 
waren erbittert, daß ihre früheren Hoff¬ 
nungen getäuscht worden, und die Sa¬ 
racenen ahneten ihr Schicksal im Falle 
der Eroberung Jerusalems. Deßhalb 
beschlugen die letzteren einen ungeheuren 
Balken ringsum mit Nägeln und eiser¬ 
nen Haken, befestigten zwischen diesen 
Werg, Stroh und andere brennbare 
Dinge, gossen Pech, Oel und Wachs 
darüber hin, steckten Alles an mehreren 
Stellen zugleich in Brand und warfen 
dann den Balken mit ungeheuerer An¬ 
strengung zum Thurme des Herzogs 
von Lothringen. Schnell wollten ihn 
die Christen wegziehen, allein es mi߬ 
lang, weil die Belagerten eine starke 
Kette um dessen Mitte geschlungen hat¬ 
ten und ihn festhielten. Da hoffte man 
wenigstens die Flammen zu löschen, 1 
welche gewaltig um sich griffen und alle 
Werkzeuge der Pilger zu zerstören droh¬ 
ten; aber kein Wasser minderte die 
Gluth, und erst durch den glücklicher 
Weise für solche Fälle herbeigeschafften 
Essig wurde der Brand gehemmt. So 
dauerte das Gefecht schon sieben Stun¬ 
den ohne Erfolg, und viele Christen 
wichen ermüdet zurück. Der Herzog von 
der Normandie — Robert — und der 
Graf von Flandern — Balduin — ver¬ 
zweifelten an einem glücklichen Ausgang 
und riethen zur Rastung bis auf den 
folgenden Tag; der Herzog von Loth¬ 
ringen hielt nur mit Mühe seine Mann¬ 
schaft beisammen, und die Belagerten 
freuten sich schon der Errettung; da 
winkte ein Ritter von dem Oelberge her 
mit leuchtendem Schilde gegen die Stadt. 
Seht ihr," rief der Herzog, „seht ihr 
das himmlische Zeichen? gewahrt ihr 
den himmlischen Beistand?" Und Alle 
drangen rastlos wieder vorwärts; selbst 
Kranke, sogar die Weiber ergriffen Waf¬ 
fen, um die heilbringenden Gefahren 
zu theilen. In demselben Augenblicke 
warf das Geschütz der Franken die grö߬ 
ten Steine über die Mauern, und weil 
Marschall, Lesebuch. 
alle andern Mittel fruchtlos blieben, 
so wollten die Belagerten durch Zau¬ 
berei dagegen wirken; aber ein Stein 
tödtete die beiden herzugerufenen Be¬ 
schwörerinnen nebst drei Mädchen, welche 
sie begleitet hatten, und dies galt den 
Pilgern für ein zweites Zeichen des 
Himmels. Binnen vier Stunden war 
die äußere Mauer gebrochen, der Boden 
geebnet und des Herzogs Thurm der 
inneren Mauer genähert. Alles an Säcken, 
Balken, Stroh, Flechtwerk, oder was 
die Belagerten sonst zum Schutze der 
Mauer aufgehängt hatten, ward in 
Brand gesteckt; der Nordwind trieb mit 
Heftigkeit den Rauch und die Flammen 
gegen die Stadt, und geblendet und 
fast erstickt wichen alle Vertheidiger. In 
höchster Eile ließen die Pilger jetzt eine 
Fallbrücke vom Thurme des Herzogs 
auf die Mauer nieder und stützten sie 
mit Balken. Zwei Brüder aus Flan¬ 
dern, Ludolf und Engelbert, betraten 
aus dem mittleren Stockwerke des Thur¬ 
mes zuerst die Mauer; ihnen folgten, 
aus dem oberen Stockwerke herbeieilend, 
Herzog Gottfried und Eustachius, sein 
Bruder, dann viele, Ritter und gerin¬ 
gere Pilger. Man sprengte das Ste¬ 
phansthor, und mit dem Rufe: „Gott 
will es, Gott hilft uns!" stürzten die 
Christen unaufhaltsam in die Straßen. 
Unterdessen war Raimund, der Graf 
von Toulouse, an der andern Seite 
der Stadt auf das äußerste bedrängt 
und sein Thurm so beschädigt worden, 
daß ihn Keiner mehr zu besteigen wagie. 
In diesem Augenblicke der höchsten Ge¬ 
fahr erhielten aber die Türken Nachricht 
von dem Siege des Herzogs, und schnell 
versprachen sie dem Grafen die Ueber- 
gabe des Thurmes Davids gegen künf¬ 
tige Lösung und sicheres Geleit bis 
Askalon. Raimund erfüllte ihre For¬ 
derungen, erfuhr aber später wegen 
dieser löblichen Milde den ungerechten 
Tadel der Kreuzfahrer. 
Mit solcher Eile drangen nunmehr 
auch die Proven^alen in die Stadt, 
daß 16 von ihnen im Thore erdrückt 
wurden. Unkundig der Straßen gelangte 
Tankred fechtend bis zur Kirche des 
heiligen Grabes, hörte erstaunt das 
„Herr erbarm' dich unser!" singen, fand 
16
	        
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