Full text: Kleine Lebensbilder berühmter Männer für den geschichtlichen Unterricht

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Zraft dieses Mannes, so daß er, wie die Geschichtsschreiber berichten, mit 
leichter Mühe ein Hufeisen zerbrach oder einen geharnischten Mann empor 
hob wie ein Kind und mit seinem gewaltigen Schwerte einem Feinde vom 
Kopfe an fast den ganzen Leib spaltete. 
Seine Kleidung war nach deutscher Art einfach und unterschied sich 
iaum von der des gemeinen Franken. Auf dem Leibe trug er ein leinenes Hemde, 
von den fleißigen Händen seiner Töchter gesponnen und gewebt, darüber ein von 
einer seidenen Leibbinde zusammengehaltenes Wamms und einen einfachen, mit 
seidener Borte eingefaßten Rock, ferner lange leinene Beinkleider, Strümpfe 
und Schnürschuhe. Zuweilen trug er einen großen Mantel von weißer 
oder grüner Farbe und im Winter um Brust und Schultern einen Ottern- 
pelz; stets hing ein großes Schwert, dessen Griff und Wehrgehänge von 
Gold oder Silber war, an seiner Seite. Nur an Reichstagen und hohen 
Festen erschien er in voller Majestät, mit einer goldenen von Edelsteinen 
strahlenden Krone auf dem Haupte, angethan mit einem lang herabhängen- 
den Mantel, der mit goldenen Bienen besetzt war. 
Die letzten Lebenstage Karls des Großen wurden durch den schmerz- 
lichen Verlust seiner beiden hoffnungsvollsten Söhne, Pippin und Karl, ge- 
trübt. Als er seine Kräfte täglich mehr und mehr abnehmen sah, ließ er, 
im Vorgefühl seiner baldigen Auflösung, seinen einzigen noch übrigen Sohn 
Ludwig, dem er schon früher Aquitanien zur Verwaltung übergeben hatte, 
nach Aachen kommen. Nachdem er ihm in der Marienkirche in Gegenwart 
einer großen Volksmenge die wichtigsten Pflichten eines Herrschers ans 
Herz gelegt hatte, mußte sich Ludwig mit eigener Hand die goldene Krone 
aufsetzen. So ward er gekrönter König aller Franken. Nicht lange über¬ 
lebte Karl die Krönung seines Sohnes. Nur wenige Monate darauf, im 
Januar des Jahres 814, ergriff ihn ein Fieber, welches sich in den letzten 
Jahren oft eingestellt hatte, heftiger als zuvor. Da ließ er den Bischof 
Hildbold, seinen Vertrauten, rufen und empfing aus seiner Hand das heilige 
Abendmahl. Am Morgen des folgenden Tages — es war der 28. Januar 
— fühlte er die Annäherung des Todes. Mit letzter Kraft hob er die 
rechte Hand auf, drückte auf Stirn und Brust das Zeichen des h. Kreuzes, 
legte dann seine Hände gefaltet über die Brust zusammen und sang mit 
geschlossenen Augen und leiser Stimme: „Vater, in deine Hände befehle 
ich meinen Geist!" 
So entschlief der große Mann, im zwei und siebenzigsten Jahre seines 
Alters, nach einer fast sieben und vierzigjährigen glorreichen Regierung. 
Merkwürdig, wie er gelebt hatte, wurde er auch begraben. Im vollen 
Kaiserschmucke, mit Krone und Schwert, ein goldenes Evangelienbuch auf 
den Knieen, ein Stück des h. Kreuzes auf dem Haupte, die goldene Pilger- 
tasche um die Hüfte, wurde er sitzend auf einem goldenen Stuhle in die 
Gruft der von ihm gestifteten Marienkirche zu Aachen hinabgesenkt. Nach 
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