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IDO sich an bestimmten Tagen alle Bürger zur gemeinschaftlichen Beratung
versammelten, sah man mit Erstaunen, wie ein Redner nach dem andern durch
gewandte und künstlerische Darstellung die ganze Volksmenge wie durch
Zauber mit sich fortriß. Au den Hafenplätzen wimmelte es unaufhörlich
von ankommenden und abgehenden Menschen. Bald wurden eingelaufene
Schiffe ausgeladen, bald neugebaute vom Stapel gelassen, bald verließen
einige schwer beladen den Hafen, um die Erzeugnisse athenischen Gewerb-
sleißes nach anderen Ländern zu bringen. Diese Pracht und Herrlich-
keit der Stadt, dieses nimmer ruhende Leben in derselben waren Haupt-
sächlich das Werk des Perikles. Er verlegte willkürlich die Kasse des
Bundes, den die meisten griechischen Seestaaten nach den siegreichen Kämpfen
gegen die Perser mit Athen geschlossen hatten, von Delos nach Athen; eine
sehr große Anzahl von Inseln und Städten mußte ihre Beiträge in diese
Kasse zahlen. Dieses Geld und die von den Persern erbeuteten Schätze
verwendete Perikles teils zur Verschönerung der Stadt, teils zur Aus-
munterung und Unterstützung der Künstler und Gelehrten. Durch sein gern-
des und würdevolles Wesen, durch seine hinreißende Beredsamkeit hatte er
sich aller Herzen gewonnen. Das sonst so herrschsüchtige und waukel-
mütige Volk ließ sich ganz von ihm leiten. Was er riet, das geschah; wen
er anklagte, der wurde verurteilt; wen er verteidigte, der wurde unfehlbar
freigesprochen. Unter diesem merkwürdigen Mann stand die Stadt in ihrer
höchsten Blüte. Aber wie die Blume gerade in ihrer reizendsten Schönheit
dem Verwelken am nächsten ist, so auch Athen.
Perikles hegte den großen Plan alle Griechen zu einem großen Bundes-
staat zu vereinigen, dessen Haupt Athen sein sollte; doch derselbe scheiterte
an dem Widerstand ber Spartaner. Die Eifersucht der Spartaner auf Athens
Größe unb ber baraus entspringende Haß gegen Athen führte auch bald den
Ausbruch des peloponnesifchen Krieges herbei, der die Blüte Griechenlands
und vor allem Athens vernichtete. Der Krieg endete nach fast dreißig-
jähriger Dauer mit der Niederlage und Einnahme Athens. Wohl schwerlich
würde der Krieg diesen Ausgang gehabt haben, wenn Perikles die Leitung
der athenischen Angelegenheiten behalten hätte und nicht im dritten Jahre
des Krieges durch jene schreckliche Krankheit, die Pest, die in der Stadt
ausbrach, hinweggerafft worden wäre.
§ 26. Sokrates, der weiseste der Menschen.
Sokrates war im Jahre 469 zu Athen geboren. Sein Vater Sophro-
niskos war ein Bildhauer, und Sokrates selbst übte anfangs diese Kunst.
Er nahm an einigen Feldzügen seiner Vaterstadt teil und zeigte hohen Mut
und große Tapferkeit. Doch fein sinnender Geist richtete sich bald auf
andere Gegenstände, die ihm wichtiger als Kunst und Krieg zu sein schienen: