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er widmete sich der Philosophie und suchte das Wesen Gottes und
der Welt zu erforschen und namentlich die Menschen auf ihre Pflichten
aufmerksam zu machen. Indem er auf jede andere Thätigkeit verzichtete,
ergab er sich der stillen Betrachtung über die wichtigsten Dinge des Men¬
schen. Er war oft fo vertieft, daß er den ganzen Tag und die ganze
Nacht unbeweglich auf derselben Stelle stand. Erst, wenn die Sonne auf-
ging, erwachte er gleichsam aus seiner Verzückung; dann entblößte er sein
Haupt und betete. Unter seinen ausgearteten Mitbürgern, die in allen
Lüsten schwelgten, in der üppigsten Pracht einhergingen, erschien er selbst
in rührender Einfachheit, nur in einen schlichten Mantel gehüllt; selbst im
Winter ging er oft mit bloßen Füßen. Er aß und trank nur das Aller--
gewöhnlichste und blieb bei einfacher Kost immer gesund, selbst zur Zeit
der Pest. Sein Grundsatz war: „Nich ts bedürfen ist göttlich , und
am wenigsten bedürfen der Gottheit am nächsten."
Bei einer so einfachen Lebensweise blieb Sokrates stets heiter und
vergnügt. Kein Vorfall konnte seine Seelenruhe stören. Einst gab ihm ein
böser, zorniger Mann eine Ohrfeige. „Es ist doch verdrießlich," sagte So-
krates lächelnd, „daß man nicht voraussehen kann, wann es gut wäre einen
Helm zu tragen!" Ebenso hörte er es einst mit der größten Ruhe an, daß
jemand schlecht von ihm gesprochen habe. — „Mag er mich doch auch
prügeln," sagte er, „wenn ich nicht dabei bin." Ein andermal grüßte er
einen vornehmen Bürger, der ihm nicht dankte, sondern stolz vorüberging.
Die jungen Freunde des Sokrates waren hierüber ungehalten. „Nicht doch",
versetzte der Weise, „ihr würdet mir ja nicht zürnen, wenn mir einer be¬
gegnete, der häßlicher wäre als ich. Was ereifert ihr euch denn, daß dieser
Mensch nicht so höflich ist wie ich!"
Das Hauptgeschäft des Sokrates war die Unterweisung der Jugend.
Er hielt aber keine regelmäßige Schule, sondern lehrte an allen Orten, auf
dem Markte, auf Spaziergängen, bei Tische, im Lager, kurz, wo er viele
Menschen zusammenfand. Für seinen Unterricht forderte er nichts. Dabei
schlug er seinen eigenen Weg ein seine Lehre einem anderen recht faßlich
beizubringen. Er ließ sich mit ihm über den bestimmten Gegenstand in eilt
Gespräch eilt, bis durch wechselseitiges Fragen und Antworten die Wahrheit
einer Sache und die Ungereimtheit ihres Gegenteiles klar in die Augen
sprang. So belehrte er einst den jungen Alkibiades, als dieser große
Schüchternheit verriet dereinst vor dem Volke als Redner aufzutreten, in sol-
genfer Art: „Würdest du dich wohl fürchten vor einem Schuster zu reden?"
— „O nein!" — „Oder könnte dich ein Kupferschmied verlegen machen?"
— „Nicht im geringsten!" — „Aber vor einem Kaufmanne würdest du
doch erschrecken?" — Ebenso wenig!" — „Nun siehe", fuhr er fort, „aus
solchen Leuten besteht ja das athenische Volk. Du fürchtest den einzelnen
nicht, warum wolltest du sie fürchten, wenn sie versammelt sind!"
Neuhaus, Kleine Lebensbilder. 4